"Genau jetzt, während ich mit Ihnen spreche, schaue ich aus dem Fenster und sehe keine Menschenseele auf der Straße", schildert Federico Bellavere am Dienstagvormittag am Telefon. Der 71-jährige Kardiologe aus dem norditalienischen Padua hat sich schon vor Wochen freiwillig aus der Pension zurückgemeldet und verstärkt nun das medizinische Personal in einem Krankenhaus in Venedig. "Morgen übersiedle ich aber bis auf weiteres nach Cortina, in die Berge. Von dort gab es eine Anfrage, man benötigt auch dort dringend Ärzte. Also fahre ich dorthin. Ich bin ja flexibel und froh, helfen zu können."

Die Notfallmaßnahmen der italienischen Regierung von Giuseppe Conte – nämlich ganz Italien zur Schutzzone zu erklären und dementsprechende Maßnahmen zu verhängen – begrüßt Bellavere "voll und ganz, ebenso die allermeisten meiner Kollegen", erklärt der Arzt im Gespräch mit dem STANDARD. "Wir müssen schlicht und einfach handeln. Denn wenn die Ansteckungsrate im bisherigen Tempo weitergehen würde, wäre das eine Katastrophe für das Gesundheitssystem. Dann hätten wir binnen kürzester Zeit weder ausreichend Betten auf Intensivstationen noch Reanimationsgeräte oder medizinisches Notfallpersonal. Also ja: Die Maßnahmen sind richtig."

Federico Bellavere: "Die Verbreitung des Coronavirus verlangsamen, wo und wie es geht."
Foto: privat/miodottore.it

Norden gut gerüstet, Sorge um Lombardei und Süditalien

Im Norden Italiens sei man, so schätzt Bellavere die Lage ein, gut gerüstet und zuversichtlich, die Lage aus medizinischer Sicht halbwegs in den Griff zu bekommen. Aber nur, wenn die Menschen, die Patienten, mittun. "Darum ist es so wichtig, den Maßnahmenkatalog der Regierung ernst zu nehmen."

Mehr Sorgen bereitet den Politikern und Ärzten die Lage in der Lombardei (Region rund um Mailand) selbst, dort sei die Ansteckungsrate bereits sehr hoch, während sie in anderen Regionen – vor allem im Süden – noch sehr gering beziehungsweise fast vernachlässigbar sei. "Doch wir dürfen uns nicht in Sicherheit wiegen", warnt der Arzt, "denn dieses Coronavirus ist extrem ansteckend – und noch haben wir keine adäquate Medikation entwickelt. Das Gebot der Stunde – oder besser: dieser Tage und Wochen – ist, die Verbreitung zu verlangsamen, wo und wie es geht. Ich kann nicht oft genug wiederholen: Das hier ist sehr ernst. Sehr ernst."

Italiens Süden mag derzeit noch nicht stark betroffen sein, räumt Bellavere ein, aber es sei weithin bekannt, dass sich die medizinische Versorgung dort nicht auf dem Niveau Norditaliens befinde. Umso wichtiger sei es, das Virus möglichst noch im Norden einzudämmen.

Harte Zeiten für Ärzte und Krankenpfleger

Für die Lombardei ortet Bellavere ein strukturelles Problem im medizinischen Sektor. In dieser sehr wohlhabenden Region gebe es mehr als anderswo in Italien eine hohe Rate an privatisierten medizinischen Einrichtungen – und diese hätten möglicherweise in der Anfangsphase der Verbreitung des Coronavirus nicht mit jener Entschiedenheit mitgeholfen, die möglich gewesen wäre. "Die medizinische Versorgung durch die öffentliche Hand ist hingegen hier in Venetien oder anderen Regionen um einiges dominanter. Aber auch das ist nur eine von mehreren Hypothesen, die jetzt von Medizinexperten erörtert werden."

Für das medizinische Personal in Italien sind schon längst harte Zeiten angebrochen. "Wir arbeiten alle sehr hart", erzählt der Kardiologe. "Aber immerhin: Außerhalb der Lombardei gibt es beim medizinischen Personal (Stand Dienstagvormittag) bisher nur einen oder zwei Ansteckungsfälle. Wir können also nach unserer Schicht wieder nach Hause gehen. In der Lombardei hingegen ist die Lage viel brisanter, dort geht es nicht um ein paar Dutzend Patienten, sondern bereits um tausende." Und dementsprechend seien auch Ärzte und Pfleger mehr Gefahren ausgesetzt.

Wochen oder Monate?

Wie lange der Kampf gegen das Coronavirus dauern wird, vermag Bellavere nach eigenen Angaben nicht seriös zu beantworten. "Ich hoffe doch, dass das nur eine Angelegenheit von mehreren Wochen sein wird und nicht von mehreren Monaten. Ich bin aber skeptisch, dass sich das Problem von selbst lösen wird, wenn erst einmal die heiße Jahreszeit anbricht. Wir haben es hier nicht mit einem normalen Influenza-Virus zu tun, sondern mit einem, das viel ansteckender ist. Und wir kennen es noch nicht gut genug, um präzise Voraussagen treffen zu können." (Gianluca Wallisch, 10.3.2020)