Walter Benjamin, jüdisch-materialistischer Denker, starb vor achtzig Jahren.

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Schon an der Frage, ob Walter Benjamin als Philosoph eigenen Rechts anzusehen sei, schieden sich lange die Geister. Eine Systematik wird man den unendlich vielfältigen Gedanken des Berliner Kunsthändlersohnes nicht überstülpen wollen. Sich selbst nannte Benjamin einen "Literator": Von früh an geübt, kleine und kleinste Gegenstände in den Blick zu nehmen, um sie kritisch zu prüfen, verlieh er selbst kolossalen Einsichten die knappest mögliche Form.

Wesentliche Impulse verdankt Benjamins Denken der eigenen frühesten Jugend. Der "Lichtstreif unter der Schlafzimmertür am Vorabend einer Reise" konnte, mit Kinderaugen wahrgenommen, bange Gefühle wecken und doch die Reiselust schüren. Die Erinnerungen aus der "Berliner Kindheit um Neunzehnhundert" finden ihr grauenhaftes Echo in Benjamins Flucht vor den Nazis 1940.

Mit einer Schar Emigranten überquerte er im September die Pyrenäen. Spanien schien die letzte Ausflucht. Max Horkheimer, Zentralgestirn des Instituts für Sozialforschung, hatte Benjamin Affidavit und Visum für die USA verschafft. Die Drohung lokaler Schlepper, die Flüchtlingsschar an die Nazis auszuliefern, veranlasste Benjamin dazu, Gift zu nehmen. Dem Tode nahe, lehnte er es am 26. September ab, sich den Magen auspumpen zu lassen. Die anderen Flüchtlinge durften daraufhin passieren.

Gegenstände im Rätsel vereint

Benjamins Tod konnte den Nachruhm des schwierigen Denkers nicht schmälern. Ungleiche, untereinander sogar verfeindete Freunde sorgten für die sukzessive Verbreitung seiner Gedanken: voran Theodor W. Adorno sowie der Judaist Gershom Sholem. Die Fertigstellung seines Hauptwerkes, der "Passagen" über das Paris des 19. Jahrhunderts, blieb Benjamin versagt. Ohnehin galt sein Nachdenken eher dem versprengten Detail, oder der Konstellation von Dingen, die sich im Rätselbild vereint finden.

Jemand wie Benjamin möchte "die Dinge von der Fron befreien, nützlich zu sein." Der Erfahrungsschatz verflossener Geschlechter und Generationen fällt den Lebenden zu – in Augenblicken der Gefahr, so wie das Auftauchen einer abschließenden, alles umfassenden Bedeutung unauflöslich mit dem Tod verbunden bleibt. Erst an der Schwelle der Zeit wird das Trümmerfeld der Geschichte überblickbar. Benjamins Gedanken sind schon deshalb der Entschlüsselung wert, weil sie um die Vorstellung des Glücks kreisen. Die Welt empfand er als im Ganzen erlösungsbedürftig. Das Ziel: das "geronnene Leben im Versteinten" freizulegen.

In den üppigen Bürgerwohnungen des Historismus sah er den Tod vorweggenommen: "wahrhafter Komfort erst vor dem Leichnam." Die bürgerliche Wohlanständigkeit erschien Benjamin als Ausdruck ungerechter Verhältnisse. Im trüben Licht der "singenden Gasflamme", vor exotischen Kelims, gedieh seine Vorliebe für den Kriminalroman: in jenen sonnenlosen Ecken, wo kein Halm echten Lebens sprießt. "Auf diesem Sofa kann die Tante nur ermordet werden."

Benjamin war sich noch in den 1930ern, als er sich zum Kommunismus bekannte, nicht zu schade, zwischen den Trümmern des Fortschritts nach Lücken Ausschau zu halten, die Zuversicht rechtfertigen. Insofern versuchte er, "das Bild der Geschichte in den unscheinbarsten Fixierungen des Daseins, seinen Abfällen gleichsam, festzuhalten" (Adorno).

Erwiderte Blicke der Dinge

Seine tiefere Hoffnung war freundlich. Von ihr sollte auch unsere Digitalkultur zehren. Von den Dingen erhoffte er, sie würden, genau betrachtet, den Blick erwidern. Seine Formel von der "einmaligen Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag", hat Philosophie- und Technikgeschichte geschrieben.

Im Verlauf einer lockeren Serie sollen wichtige Schriften Benjamins neu erörtert werden: etwa der epochemachende Aufsatz "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" (1939). Darin konstatiert Benjamin den Verlust der Einmaligkeit. Umgekehrt sammelt er Indizien für die Annahme, dass das Wahrnehmungsvermögen gerade der Benachteiligten durch die Möglichkeit massenhaften Zugriffs auf Kunstwerke geschärft werden könnte. Vom surrealistischen "Choc" wird ein Denken erschüttert, das nach "eingreifenden Mitteln" sucht, nach geeigneten "Einsatzkräften", die die schmähliche Wiederkehr von Not und Ausbeutung ein für alle Mal beenden. Dem berühmten "Engel der Geschichte" sollte darum die Heimkehr ins Paradies bereitet werden. (Ronald Pohl, 11.3.2020)