Bill Clinton umarmt Monica Lewinsky: Die Affäre des ehemaligen US-Präsidenten mit einer Praktikantin war ein großer Skandal.

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Skandalöse Dinge ereignen sich laufend, aber nur wenige davon werden zu einem echten Skandal. Drei Voraussetzungen müssen zu diesem Zweck erfüllt werden, wie André Haller, Hochschullehrer für Marketing & Kommunikationsmanagement und Digital Marketing an der FH Kufstein, erklärt: "In einem ersten Schritt gibt es eine Grenzüberschreitung, die rechtlicher Natur sein kann, aber nicht muss."

Auch Verstöße gegen die Normen einer Gesellschaft, die strafrechtlich nicht relevant sind, können einen Skandal auslösen. Der zweite Schritt bestehe in der Veröffentlichung dieser Grenzüberschreitung. Die dritte und entscheidende Voraussetzung für einen Skandal sei Empörung darüber, zumindest in Teilen der Öffentlichkeit, "damit ein bestimmtes Ereignis überhaupt als Skandal wahrgenommen wird", so der Kommunikationswissenschafter.

Es geht also um das Wertesystem einer Gesellschaft. Und das ist von Land zu Land unterschiedlich, wie sich anhand diverser "Skandalkulturen" erkennen lässt. "Ob ein Thema zum Skandal wird oder nicht, hängt vor allem auch davon ab, wie eine Nation historisch gewachsen ist, welche kulturellen Eigenschaften vorherrschen und wie wichtig religiöse Werte in der Gesellschaft genommen werden", weiß Haller.

Empörungswellen

So haben etwa außereheliche Affären von Spitzenpolitikern nicht überall auf der Welt die gleichen Chancen, zum Skandal zu werden. In den USA oder Großbritannien sind die gesellschaftlichen Voraussetzungen dafür offenbar recht gut, denn Sexskandale beleben dort in regelmäßigen Abständen die Boulevardmedien.

"Gerade in Ländern mit puritanischer Tradition ist das ein wichtiger Faktor für die Wählbarkeit eines Politikers." Die katholische Tradition scheint hier ein weniger nachhaltiger Skandaltreiber zu sein, wie der Blick nach Italien vermuten lässt. Dort seien die Sexeskapaden etwa eines Silvio Berlusconi deutlich weniger skandalisiert worden als im Ausland.

In Skandinavien wiederum, wo die Gesellschaften vergleichsweise egalitär ausgerichtet sind, können offenkundige Benachteiligungen bestimmter Gruppen bzw. von Frauen hohe Empörungswellen auslösen. "Oft brechen alternative Medien bewusst dieses Tabu, um den von ihnen postulierten Meinungskorridor zu erweitern", hat der Kommunikationswissenschafter beobachtet.

Korruptionsgeschichten

Die österreichische Skandalkultur sei wie die der meisten mitteleuropäischen Länder etwas anders gelagert: "Hier sind es vor allem klassische Korruptionsgeschichten wie Ibiza oder der Eurofighter-Deal, die zu Skandalen werden." Die Deutschen wiederum regen sich dann besonders auf, wenn es um Verstöße gegen die Umwelt oder die kollektive Identität geht, wie der gebürtige Bayer weiß.

"Wer sich missverständlich auf die NS- oder DDR-Vergangenheit bezieht bzw. diese Regime schönredet, muss – zu Recht – mit öffentlicher Ächtung rechnen." Gleichzeitig habe Deutschland eine ausgeprägte Skandalisierungswilligkeit in Hinblick auf die Wirtschaftskriminalität.

Wie die Werte einer Gesellschaft unterliegen natürlich auch die unterschiedlichen Skandalkulturen einem permanenten Wandel. So ist es heute kaum vorstellbar, dass in den 1960er-Jahren Nacktheit in Filmen hierzulande noch als skandalös galt. Auch Veränderungen in der politischen Kultur wirken sich auf die Skandalfähigkeit von Ereignissen und Äußerungen aus.

Verschiebungen im Wertesystem

"Wie etwa Donald Trump über Minderheiten und Frauen spricht, wäre früher in den USA für einen Präsidentschaftskandidaten nicht möglich gewesen", so Haller. "Mit solchen Aussagen hätte man sich noch vor einigen Jahren selbst aus dem Rennen genommen."

Wie etliche seiner Kollegen hegt der Wissenschafter den Verdacht, dass hier gewisse Verschiebungen im US-Wertesystem sichtbar werden. Auch in Deutschland beobachtet er eine Art Kulturwandel: "Bestimmte Aussagen der AfD hätte man in den 1990er-Jahren nur von der rechtsextremen NPD erwartet."

Und wie sieht es in Österreich in dieser Hinsicht aus? "In Österreich beobachte ich eine geringere Anfälligkeit für Skandale um die NS-Zeit", meint Haller. "Österreich hat sich hier anders ‚geframed‘ als Deutschland, die Schmerzgrenze liegt meiner Beobachtung nach höher." Das zeige sich nicht zuletzt an Reden im rechten politischen Spektrum: "Gewisse Sager sorgen zwar kurz für Empörung, die klingt meist aber schnell wieder ab."

Skandale steigern Auflage

Gibt es eigentlich Kulturen, die grundsätzlich einen stärkeren Hang zum Skandalisieren haben als andere? "In Ländern mit einem ausgeprägten Boulevardjournalismus fallen Skandale auf einen sehr fruchtbaren Boden", so Haller. "Gibt es nicht genügend echte Skandale, werden durch diese Medien mitunter auch welche inszeniert, denn sie steigern die Auflage."

Und welche Rolle spielen die neuen Medien in der öffentlichen Empörungskultur und ihrem Wandel? Immerhin erlauben sie jedem Nutzer, anonym und völlig ungefiltert als skandalös Empfundenes an den digitalen Pranger zu stellen. "Beweise" für ein bestimmtes Fehlverhalten verbreiten sich in rasender Geschwindigkeit, der Hetze gegen einzelne Personen und Minderheiten sind Tür und Tor geöffnet.

Ob hier eine Verpflichtung zu Klarnamen im Netz etwas verbessern könnte? "Man weiß aus Untersuchungen, zum Beispiel aus einer Studie der Universität Zürich, dass es einen bestimmten Prozentsatz an Usern gibt, für den es keinen wesentlichen Unterschied macht, ob er unter wirklichem Namen oder unter Pseudonym postet", dämpft der Skandalforscher Hoffnungen.

Aufgabe der Qualitätsmedien

In dieser Situation komme den seriösen publizistischen Medien eine wichtige neue Aufgabe zu: "Sie können durch objektive, umfassende und quellenkritische Berichterstattung korrigierend in den Meinungs- und Skandalisierungswildwuchs eingreifen." Gehen diese Leitmedien auf einen Möchtegernskandal aus den Untiefen des Internets nicht ein, habe ein Einzelner kaum die Chance, einen Skandal loszutreten.

Und was verrät die Skandalberichterstattung über die Machtverhältnisse zwischen Politik und Medien? Wie verändern Medien die gesellschaftliche Wirkung von Skandalen? Um brisante Fragen zu erörtern, findet heuer vom 2. bis 4. April bereits die dritte internationale Skandalogie-Tagung an der Universität Bamberg, Hallers ehemaligem Ausbildungs- und Arbeitsort, statt. (Doris Griesser, 13.3.2020)