In den USA wurden die Memoiren des US-Regisseurs Woody Allen aus dem Verlagsprogramm genommen. In Deutschland appellieren Autorinnen und Autoren an Rowohlt, es Hachette gleichzutun. Im Gastkommentar kritisiert der Künstler Peter Truschner, diese machten es sich zu einfach.

Normalerweise gehe ich bei Missbrauch von der Formel aus: dem (meist weiblichen) Opfer wird nicht geglaubt, der (meist männliche) Täter kommt (viel zu leicht) davon – nicht zuletzt, weil es handfeste Beispiele dafür in meinem Bekanntenkreis gibt.

Im Fall von Dylan Farrow bin ich mir da nicht (mehr) sicher.

Zuerst war ich von der Heftigkeit bestürzt, mit der Farrow als erwachsene Frau ihren Missbrauchsvorwurf wiederholt hat, und habe ihr intuitiv geglaubt. Dann jedoch veröffentlichte Dylans Bruder Moses eine Stellungnahme, die es in sich hat, die jedoch zur Hochzeit von #MeToo medial nur wenig Beachtung fand.

Diese erschütternde Schilderung der allgemeinen, augenscheinlich von Mia Farrow verantworteten Missbrauchsverhältnisse im Hause Allen/Farrow haben mich an die Erzählungen meiner Mutter denken lassen, die ihre berufliche Laufbahn bei einem Scheidungsanwalt begann und entsetzt war, wie Kinder von ihren Eltern im Zuge einer Trennung manipuliert wurden. Es sollte nach der Lektüre von Moses Farrows Text niemand überraschen, dass Mitglieder des Farrow’schen Familienkonstrukts sich das Leben genommen haben. Nicht nur jeder Scheidungsanwältin, sondern jeder Mutter müssten bei der Tatsache, dass Mia Farrow die kleine, völlig verunsicherte Dylan vor einer Kamera über den Missbrauch sprechen ließ und ihr dabei energisch soufflierte, die Haare zu Berge stehen.

Woody Allens Autobiografie "Apropos of Nothing" ("Ganz nebenbei") sollte Anfang April in den USA erscheinen. Nach Protesten wegen Missbrauchsvorwürfen machte der US-Verlag einen Rückzieher.
Foto: EPA / Javier Etxezarreta

Ausnahme Allen

Hinzu kommt, dass es bei prominenten Männern, die heutzutage öffentlich eines Missbrauchs beschuldigt werden, sofort weitere Vorwürfe oder zumindest Indizien gibt: Strauss-Kahn, Weinstein, Wedel, Matzneff, Domingo, Polanski. Bei den Genannten trifft zudem zu, was ich zu Beginn geschrieben habe: Sie kommen viel zu billig davon!

Woody Allen stellt da die absolute Ausnahme, geradezu das Gegenteil dar. Obwohl Allen bis zuletzt eine Vielzahl attraktiver junger Frauen in seinen Filmen und am Set beschäftigte, gibt es keinen Hinweis auf (beobachtete) Verfehlungen. Im Gegenteil: Meist wird geschwärmt, wie angenehm es ist, mit ihm zu arbeiten. Auch aus seinem Privatleben gibt es keine Anhaltspunkte für den Kontext Missbrauch/Pädophilie. Sehr ungewöhnlich – es sei denn, dass eben tatsächlich nichts dergleichen vorliegt.

Übel mitgespielt

Allen hat vor allem bei Frauen viele Sympathien eingebüßt, weil er mit der Adoptivtochter von Mia Farrow ein Verhältnis einging. Eine Rolle spielt dabei, dass er fremdging und dabei dem Klischee entsprochen hat, eine ältere Frau gegen eine jüngere einzutauschen – eine Konstellation, der Frauen meist mit großem Widerwillen, ja, Verachtung gegenüberstehen. Dass Soon-Yi nicht Allens Adoptivtochter ist, sie nicht im selben Haus lebten, er sie nach Augenzeugenberichten erst als Zwanzigjährige richtig kennengelernt hat und – völlig entgegen dem Klischee – mit ihr seither zusammen ist, sie 1997 geheiratet und mit ihr zwei Kinder adoptiert hat, spielt für Leute, die diese Beziehung als Indiz für Allens Schuld sehen, keine Rolle – obwohl diese Beziehung vorurteilslos und auf lange Sicht betrachtet sogar eher für Allen spricht.

Dass sich der Verdacht gegen Allen bei zwei vorgerichtlichen Untersuchungen nicht erhärtete, spielt für meine Überlegungen keine Rolle. Zu oft ist vor allem betroffenen Frauen bei derartigen Untersuchungen oder polizeilichen Ermittlungen übel mitgespielt worden, sind ihre Aussagen vorschnell, teils gezielt in Zweifel gezogen worden. Allerdings sollte angesichts von Moses Farrows Schilderungen hellhörig machen, dass bei den Vernehmungen der Eindruck entstand, die Aussagen der kleinen Dylan klangen "wie auswendig gelernt".

Eine Ferndiagnose

Es ist gut möglich, dass Dylan Farrow die Wahrheit sagt. Dass Allen sich schuldig gemacht und in einem Moment seines Lebens eine Grenze überschritten hat, die er davor und auch danach nicht mehr überschritten hat. Es ist aber auch möglich, dass es sich hier um eine Familienkatastrophe geradezu Shakespeare’schen Ausmaßes handelt.

Das zu beurteilen sehe ich mich, der zuerst im Grunde immer dem Opfer glaubt, außerstande – und halte mich daher mit Anschuldigungen und daraus hervorgehenden Forderungen zurück.

Dass jene Autorinnen und Autoren, die nun an den Rowohlt-Verlag eine Petition gerichtet haben, Allens Memoiren nicht zu veröffentlichen – unter anderen Till Raether, Kathrin Passig, Margarete Stokowski und Sascha Lobo –, im Gegensatz zu mir mit Fähigkeiten an der Grenze zur Hellseherei ausgestattet sind, um ferndiagnostisch beurteilen zu können, wie es sich in dieser Sache verhält, kann wohl definitiv ausgeschlossen werden.

Keine Glaubensfrage

Dass der Rowohlt-Verlag sich in seinem Geschäftsgebaren danach zu richten hätte, was die Genannten oder andere Glaskugelspezialistinnen und -spezialisten im konkreten Fall und überhaupt "glauben", wäre geradezu absurd.

Die Unschuldsvermutung sowie die Freiheit der Rede und des gedruckten Worts sind viel zu kostbare, über die Jahrhunderte mühsam und mit vielen Opfern errungene Güter und Werte, um sie jenen zu überlassen, die – egal, von welcher Seite des politischen Spektrums kommend – glauben, sie wüssten, was (für alle) richtig und was falsch ist. (Peter Truschner, 11.3.2020)