Forscher untersuchen die Neandertaler-Hinterlassenschaften in der Chagyrskaya-Höhle.
Foto: K. Kolobova/Institute of Archeology and Ethnography of the Siberian Branch of the RAS

Europa mag zwar das Kernland des Neandertalers gewesen sein, sein Verbreitungsgebiet erstreckte sich aber auch über Kleinasien, die Levanteküste und im Osten bis weit nach Zentralasien hinein. Dort, in Südsibirien, lebten mindestens zwei verschiedene Neandertaler-Gruppen, wie die Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) berichtet. Und eine davon war aus Osteuropa eingewandert.

Wann und woher die sibirischen Neandertaler konkret kamen, war bislang ungeklärt. Ein internationales Forschungsteam mit Beteiligung des FAU-Archäologen Thorsten Uthmeier hat nun Werkzeuge aus der Chagyrskaya-Höhle im russischen Teil des Altai-Gebirges untersucht, um der Frage nachzugehen. Die Ergebnisse wurden in der Fachzeitschrift "Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America" (PNAS) veröffentlicht.

Zug nach Osten

Nachdem das Team zunächst festgestellt hatte, dass die Steinwerkzeuge aus der Höhle keiner der zeitgleich im Altai bestehenden Gruppen ähneln, suchten die Forscher in größeren Entfernungen nach Vergleichsfunden. Geometrisch-morphologische Analysen von 3D-Modellen der gescannten Werkzeuge zeigten, dass die Werkzeuge aus der Chagyrskaya-Höhle stark Artefakten des sogenannten Micoquien ähneln, einer Neandertaler-Kultur aus Mittel- und Osteuropa mit charakteristischer Steinwerkzeug-Industrie. Dies dürfte also der Ursprung dieser Population sibirischer Neandertaler gewesen sein.

Anhand von DNA-Analysen an Neandertalerknochen und Sedimenten aus der Chagyrskaya-Höhle konnten die Forscher den Ausbreitungsweg dieser Neandertaler rekonstruieren: Der Weg führte sie aus Mittel- und Osteuropa über mehrere Generationen hinweg über Kroatien und den Nordkaukasus bis in den Altai. Diese Migrationswelle hat laut FAU vor etwa 60.000 Jahren stattgefunden.

Mehrere Wellen

Die DNA-Analysen zeigten aber auch, dass sich die Neandertaler der Chagyrskaya-Höhle genetisch von einer zweiten Altai-Gruppe aus der Denisova-Höhle deutlich unterscheiden. Berühmt wurde diese Höhle durch die Fossilien des nach ihr benannten Denisova-Menschen, doch hat sie im Lauf der Zeit verschiedenen Menschenarten Unterschlupf geboten. Die dortigen Neandertaler scheinen aber keine Werkzeuge des Micoquien gekannt zu haben. Daher geht das Forschungsteam von einer mehrfachen Ausbreitung von Neandertalern nach Sibirien aus. (red, 18. 3. 2020)