Das Coronavirus zeigt, wie stark die wirtschaftliche Verflechtung geworden ist. Schon vor Corona war die weltwirtschaftliche Struktur im Wandel. Der Handelskrieg zwischen China und den USA hat gezeigt, dass zumindest die Handelsgrenzen nicht immer offen sind.

Foto: EPA / Martin Divisek

Die Börsen sind zu Wochenbeginn in Panik geraten. Die rasante Ausbreitung des Coronavirus und der Ölpreisschock haben zu Marktverwerfungen geführt. Ulrich Kater, der Chefökonom der Deka-Bank, über Marktpanik und die Folgen – und was es jetzt zu verhindern gilt.

STANDARD: Die Börsen waren zu Wochenbeginn in Panik. Warum kommt es durch Ereignisse wie das Coronavirus, das uns schon seit Monaten begleitet, immer wieder zu solch konzentrierten Schocks?

Kater: Die Kursentwicklungen während der Coronavirus-Krise sind schon ein guter Indikator dafür, wie die Börse darüber denkt. Wir hatten Ende Jänner schon eine kurzzeitige Irritation, wo die Ansteckungen in China ihren Höhepunkt erreichten. Hier haben die Marktteilnehmer begonnen, die Folgen für die Weltwirtschaft aufgrund von eingeschränkten Lieferketten et cetera durchzudeklinieren. Da hatten wir erste Rückschläge an den Börsen. Das hat sich gelegt, als sich zeigte, dass die Fallzahlen in China zurückgehen. Das wäre dann auch das Ende der Geschichte gewesen, wenn nicht Mitte Februar das Virus blitzschnell nach Europa und in die übrige Welt gekommen wäre.

STANDARD: Damit wurde das Problem dann auch international.

Kater: Genau. Ich habe noch nie erlebt, dass sich binnen weniger Tage die Perspektive für die gesamte Weltwirtschaft um 180 Grad gedreht hat. Das ist wirklich eine neue Qualität eines weltweiten exogenen Schocks. Mit der Übertragung von China auf Europa und Amerika führt das zu einer Entwicklung am Rande der Weltrezession. Das ist plötzlich ein ganz anderes Bild, als wenn "nur" Lieferketten in China temporär unterbrochen sind und man dann etwa im März oder April normal weitermachen hätte können.

STANDARD: Nehmen wir einmal die Panik heraus. Beim Coronavirus handelt es sich um grippeähnliche Symptome. Es gibt immer noch Bluthochdruck oder Herzkreislauf-Erkrankungen, an denen die Menschen häufiger sterben. Warum hat dieses Virus die Macht, das weltwirtschaftliche Gefüge derart zu beeinflussen?

Kater: Die Reaktionen der einzelnen Länder auf das Virus muss man mit ausreichendem zeitlichen Abstand später beurteilen. Wahrscheinlich kommt hier heraus, künftig mehr Wert auf die Prävention vor Pandemien zu legen. Denn die Kosten einer Pandemie in Form von ausgefallenem Bruttoinlandsprodukt bewegen sich bereits jetzt im Bereich von einer Dreiviertelbillion bis einer Billion US-Dollar. Für die Einschätzung der wirtschaftlichen Folgen müssen wir die Reaktionen der Behörden als gegeben nehmen. Die aus meine Sicht nachvollziehbare Strategie ist, eine maximale Eindämmung des Virus vorzunehmen, sodass die Ausbreitung verlangsamt wird. Denn die Ansteckung ist anscheinend so rasch, dass ohne Maßnahmen die Zahl der Menschen, die die Leistungen des Gesundheitssystems benötigen, zu groß wird. Damit wäre das Gesundheitssystem temporär überlastet. Zumal ein Schutz von Ärzten und Pflegepersonal mangels Gegenmitteln und Schutzausrüstung gar nicht möglich ist.

STANDARD: Niemand konnte sich wohl je vorstellen, dass ein Land wie China de facto stillsteht ...

Kater: Es helfen eben nur diese Maßnahmen, insbesondere weil China wohl etwas spät auf den ersten Fall reagiert hat. Grundsätzlich ist China jedoch die Blaupause für andere Länder. Wir haben das jetzt in Italien gesehen, und wir können annehmen, dass alle Länder, in denen sich die Krankheit ausbreitet, ähnlich reagieren werden. Wenn man dies durchdekliniert, kommt man zu den Korrekturen für das weltweite Wachstum. Das führt uns an den Rand einer weltweiten technischen Rezession.

Ulrich Kater, Chefvolkswirt der Deka-Bank: "Ich habe noch nie erlebt, dass sich binnen weniger Tage die Perspektive für die Weltwirtschaft um 180 Grad gedreht hat."

STANDARD: Warum ist es so wichtig zu betonen, dass es sich um eine technische Rezession handelt?

Kater: Eine weltweite Rezession ist ein schwerwiegendes Ereignis, aus dem man nur schwer wieder herauskommt. Bei starken wirtschaftlichen Ungleichgewichten als Ursache kann dies leicht ein oder zwei Jahre dauern. Bei einer sogenannten technischen Rezession dagegen ist die Normalisierung schneller, wenn der Anlass, in diesem Fall ein Angebotsschock, vorbei ist. Dann reden wir eher über zwei bis drei Quartale.

STANDARD: Gehen die Ansteckungen zurück, erholt sich die Wirtschaft also schneller wieder?

Kater: Zumindest leichter, als sich aus einer Finanzkrise herauszuarbeiten. Man muss bei all diesen Aussagen verstehen, dass es wenig Anschauungsmaterial für derlei Krisen gibt und jede einzelne Episode wiederum ihren eigenen Charakter hat.

STANDARD: Jeder versucht jetzt wirtschaftliche Folgen zu berechnen. Aber kann man das jetzt seriöserweise schon tun? Liegen dafür schon genügend Zahlen auf dem Tisch?

Kater: Nein, abgesicherte Erkenntnisse gibt es aus den erwähnten Gründen nicht. Ein historischer Vergleich ist daher nur begrenzt aussagefähig. Auf der Habenseite steht aber: Im Jänner war die Ausgangslage für eine wirtschaftliche Erholung wohl weit besser, als uns dies damals bewusst war. Das belegen die guten Wirtschaftsdaten über den Jahresanfang, die bis vor kurzem immer noch gemeldet wurden.

STANDARD: Damals freute man sich noch über das Teilabkommen zwischen China und den USA bezüglich des Handelsstreits ...

Kater: Richtig. Man wusste damals zwar schon vom Coronavirus, hatte aber die Hoffnung, dass sich die Konjunktur erholen würde. Diese Erholung ist durch das Virus durchkreuzt worden. Aus solchen und ähnlichen Punkten kann man sich ein Bild von Verlauf und Größenordnung des Wachstums machen, Folgen auf einen Zehntelpunkt zu berechnen ist aber illusorisch. Da sollte man die Kirche im Prognosedorf lassen.

STANDARD: Wird sich die Globalisierung verändern, jetzt wo wir gesehen haben, wie schnell Lieferketten unterbrochen sein können und wie schnell Ausfälle und Auswirkungen global wirksam werden? Oder fahren wir das gleiche Programm wie vorher, wenn das Virus wieder verschwunden ist?

Kater: Ich glaube, dass die weltwirtschaftliche Struktur in einem Wandelprozess ist. Das war aber auch schon vor dem Virus so angelegt, denn der erste Schlag gegen die Globalisierung waren die politischen Differenzen auf der Welt, die uns gezeigt haben, dass zumindest die Handelsgrenzen nicht immer offen sind. Das ist eine Botschaft, die noch wichtiger ist als die Naturkatastrophe, die jetzt über uns kommt und von der man ausgehen kann, dass es ein eher seltenes Ereignis ist. Die Unternehmen werden sich im Nachgang sicher überlegen, wie sie sich gegen solche Schocks besser wappnen können.

STANDARD: Was kann man tun?

Kater: Da bleibt eigentlich nur eine weitere Diversifizierung und Flexibilisierung der Produktion. Ich glaube nicht, dass die Coronavirus-Krise allein ausreichend gewesen wäre, um die Globalisierung zurückzudrehen. Aber es wird aus politischen Gründen Überlegungen geben, Produktionen auch wieder in die eigenen Volkswirtschaft zurückzuverlagern, weil man in einigen Branchen mehr Unabhängigkeit haben möchte. Das wird branchenweise wohl sehr unterschiedlich sein.

Dass durch das Coronavirus und die damit verbundenen wirtschaftlichen Turbulenzen die Eurokrise wieder aufflammt, glaubt Ulrich Kater, Chefvolkswirt der Deka-Bank, nicht.
Foto: Imago / Jan Huebner

STANDARD: Mit Italien ist ein wirtschaftlich schwaches EU-Land hart getroffen. An den Börsen hat auch der griechische Index starke Verluste verbucht. Ist damit zu rechnen, dass die Coronavirus-Krise und die damit verbundene mögliche Rezession die Eurokrise wieder aufflammen lässt?

Kater: Nein, das glaube ich nicht, zumindest nicht direkt. Denn die eigentlich weiterhin schwelende Eurokrise ist eine politische Krise. Da geht es darum, dass die Regeln des Euro in den Mitgliedsstaaten nicht einheitlich geteilt werden. Dass beispielsweise Vorstellungen von Solidarität und von Vergemeinschaftung von Risiken sehr unterschiedlich sind. Das ist das große Thema des Euro. Die Finanzmärkte verlangen von einem Währungsgebiet ein größeres Maß an politischer Integration, als es im Euroraum derzeit möglich ist. Das ist das eigentliche Problem der Eurozone – und nicht die Belastung durch eine Situation wie die gegenwärtige. Konkret wird etwa Italien für diese Ausnahmesituation wohl Ausnahmen bei den Fiskalregeln eingeräumt bekommen.

STANDARD: Wirtschaftliche Maßnahmen werden überall angedacht. Von Konjunkturpaketen bis zu steuerlichen Maßnahmen. Was macht hier Sinn?

Kater: Wir brauchen jetzt Maßnahmen, die verhindern, dass aus der Gesundheitskrise eine Finanzkrise wird. Denn dieses Risiko besteht, weil für Unternehmen jetzt Einnahmen ausfallen und die Kosten weiterlaufen. Da kann es sein, dass ein Unternehmen mehr Kredit benötigt. Es muss verhindert werden, dass Arbeitsplätze verloren gehen, die auch dann nicht zurückkommen, wenn die Coronavirus-Krise ausgestanden ist. Das ist ein Zweitrundeneffekt, der die Corona-Krise zu eine Wirtschaftskrise manchen könnte. Auf diesen Sofortmaßnahmen liegt jetzt der Fokus. Es gilt, Unternehmen mit Überbrückungskrediten zu unterstützen. Hier kann die EZB eingreifen, um Banken solche Überbrückungen zu erleichtern. Auch die Aufsicht kann hier Regularien temporär lockern. Staatliche Förderbanken können den Unternehmen unbürokratisch über die schwierige Zeit helfen, sodass kein Unternehmen insolvent geht und keine Jobs verloren gehen. Die Kurzarbeit ist hier auch eine effektive Maßnahme, um die Kosten des Unternehmens zurückzunehmen, wenn die Einnahmen temporär nicht fließen.

STANDARD: Und längerfristig gedacht?

Kater: Wenn die Gesundheitskrise zurückgeht, kann man schauen, ob die Konjunkturmaschine noch einmal zusätzlich angeschmissen werden muss. Es könnte dann aber auch gar nicht nötig sein, denn die Menschen sparen jetzt ja Geld, wenn sie keine Reisen antreten können oder nicht ins Restaurant gehen oder an der Zapfsäule weniger ausgeben. Erst wenn hier längerfristige Zurückhaltungen deutlich werden, sollte man über Konjunkturhilfen nachdenken.

STANDARD: Was ist von der EZB zu erwarten?

Kater: Wir glauben, dass sie es den Banken erleichtern wird, Kredite zu vergeben. Das passiert etwa, indem man die eigenen Ausleihbedingungen gegenüber den Banken abmildert. Es wird wohl auch die Zusicherung geben, dass die EZB Liquidität für die Banken bereitstellt, wenn diese gebraucht oder erhöht werden muss, weil etwa die Kreditnachfrage steigt. Ansonsten wird die EZB zusichern, dass man den Markt sehr aufmerksam beobachten wird und im Falle von Verspannungen mit unkonventionellen Maßnahmen eingreift. So könnten auch Anleihekäufe temporär erweitert werden. Ich glaube, dass diese Maßnahmen wichtiger sind als etwa eine weitere Zinssenkung.

STANDARD: Was kann man für die Banken erleichtern?

Kater: Man könnte etwa die gegenwärtigen Bedingungen innerhalb der bestehenden sogenannten Tendergeschäfte lockern oder, was wahrscheinlicher ist, neue Tendergeschäfte mit neuer Ausgestaltung auflegen.

STANDARD: Doch noch läuft das Leben in China nicht rund ...

Kater: Stimmt. Wir müssen vor allem auf zwei Risiken achten: Das eine ist eine Reinfektionswelle in China, denn dann beginnen die Beeinträchtigen der Wirtschaft von neuem. Punkt zwei sind Folgewirkungen im Finanzsystem. Beides ist in den gegenwärtig dominierenden Szenarien der Marktteilnehmer noch nicht enthalten. (Bettina Pfluger, 12.3.2020)