Surrealisten-Dreh: Hinter den Kulissen von "Las Hurdes".

Foto: Polyfilm

Was ist Realität? Und wie viele Realitäten gibt es? Salvador Simó erzählt in seinem Film Buñuel im Labyrinth der Schildkröten die Entstehungsgeschichte eines anderen: Im Zentrum des animierten Biopics stehen die Dreharbeiten zum dritten Werk des spanischen Filmemachers Luis Buñuel.

Vom weingeschwängerten Paris folgt der Zuschauer Buñuel bis in die karge Landschaft der Extremadura im Westen Spaniens. Dort, in der Region Las Hurdes, der laut Buñuel gottverlassensten Landschaft und Hölle auf Erden, will er das Leben der Dorfbewohner dokumentieren. Für Buñuel, den man als kompromisslosen Surrealisten kennt, wird es das einzige Projekt mit dokumentarischem Anspruch bleiben – und doch geht es ihm letztlich immer um dasselbe: eine verzehrbereite Portion der Realität zu servieren.

GKIDS Films

Im Paris der 30er probt der Surrealismus eine Weltanschauung, die "über die Realität" hinausführt. Absolute Wirklichkeit, geborgen aus dem Unbewussten und ohne Umweg über die Rationalität, wollen auch Luis Buñuel und Salvador Dalí auf die Leinwand bringen. Mit lose aneinandergereihten und teilweise verstörenden Sequenzen lösen Ein andalusischer Hund (1929) und Das goldene Zeitalter (1930) Empörung beim bürgerlich-konservativen Publikum aus.

Mit Dalí kommt es zum Bruch, Geldgeber ziehen sich zurück. Dann bietet ihm ein Freund, der Bildhauer Ramón Acín, einen Pakt an: Er kauft einen Lotterieschein, und wenn er gewinnt, finanziert er ihm mit dem Erlös sein nächstes Projekt. Acín knackt tatsächlich den Jackpot, und wenig später machen sich die beiden auf in die verlassene Berglandschaft der spanischen Provinz.

Herr der Realität

Las Hurdes – Land ohne Brot heißt der Film, mit dem Buñuel im Jahr 1933 einen dokumentarischen Blick auf das Faktum der Armut versucht. Schnell befördert sich der Surrealist vom Knecht zum Herr der Realität. Seine überzeichnete Wirklichkeit vom Elend eines Volkes, das nicht einmal um Brot weiß – eine Behauptung, die historisch angezweifelt wird –, ist den wehrlosen Beobachtungsobjekten schon eingeschrieben; da wird schon einmal eine Ziege vom Fels geschossen, um den Fall in Großaufnahme inszenieren zu können.

Ohne Sympathien, aber auch urteilsfrei zeichnet der auf Fermín Solís’ Graphic Novel basierende und mit Originalaufnahmen Buñuels verdichtete Animationsfilm von Salvador Simó das Bild eines Regisseurs, der sich kompromisslos seiner eigenen Wirklichkeit verschrieben hat.

So wird Buñuel im Labyrinth der Schildkröten vor allem zu einer gelungenen Reflexion über Realität als Medium: Wer verfügt über die Ware Wahrheit? Und gibt es überhaupt eine? Nicht zuletzt durch die raffinierte Ausbuchstabierung von Genres und Formen verwehrt sich Simó dabei einer klaren Antwort. Denn irgendwann fragt man sich, welches Projekt eigentlich absurder scheint: der ethno-dokumentarische Filmessay eines Surrealisten – oder ein halbfiktionaler Animationsfilm, der dessen Making-of zu liefern versucht?

Vergangenes Jahr ausgezeichnet mit dem Europäischen Filmpreis lotet Letzterer in klaren Linien behutsam die Grenzen zwischen Erzählbarkeit und vermeintlicher Objektivität aus. Dass Simó sich dabei nicht den Raffinessen und Fehlbarkeiten menschlicher Darsteller beugen muss, verschafft ihm sicher etwas Freiheit, auch weil sich die surrealistischen Zerrbilder beinahe nahtlos in die animierte Bildsprache einfügen.

Letztlich entsteht so eine Fiktion, die vor allem als Dokumentation subjektiver Realität interessant ist: Simó schafft es dabei, sich Buñuels Wirklichkeit zu nähern, ohne seine eigene zu verleugnen. (Iseult Grandjean, 12.3.2020)