Samy Debah präsentiert sich als "Kandidat gegen das System".

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Auf dem Markt Rond-Point kann man an die 70 unterschiedlichen Sprachen hören.

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Im Gemeindegebiet von Garges machen Maghrebiner die Mehrheit der Bewohner aus.

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Auf dem Markt Rond-Point sprechen alle von ihm, aber gesehen hat ihn niemand. Es ist Samstagmorgen in Garges-lès-Gonesse, alle Kandidaten verteilen Flugblätter und umwerben die Passanten. Alle außer Samy Debah. Der Kandidat ohne Etikett prangt nur von den Wahlplakaten – mit Anzug und Krawatte, kurz gestutztem, graumeliertem Bart und dem Versprechen eines "echten Wandels". Mehr nicht. Keine Parteibezeichnung, kein konkreter Programminhalt. Ist Debah ein Islamist? So bezeichnet ihn sein Wahlgegner von 2017, der Sozialist François Pupponi, in einem neuen Buch namens "Die Emirate der Republik". Darin behauptet der ehemalige Bürgermeister von Sarcelles, einem Nachbarort von Garges-lès-Gonesse, Debah sei einer dieser Emire und praktiziere die "Taqiya", die Verschleierung. Sie sei den Salafisten ein Gebot, um Ungläubige irrezuführen.

Tatsache ist, dass Debah bei den Parlamentswahlen 2017 stark abgeschnitten hat: Auf den ganzen Wahlkreis gerechnet verlor er zwar gegen Pupponi mit 34,2 Prozent der Stimmen; im Gemeindegebiet von Garges erhielt er aber 55,7 Prozent. Jetzt, bei den Kommunalwahlen, hat er damit gute Chancen, Bürgermeister der Immigranten-Vorstadt im Norden von Paris zu werden.

Auf dem Markt, wo fast so viele Sprachen gesprochen werden, wie Nationalitäten in Garges leben – deren siebzig –, schüttelt die Linkskandidatin Pamela Hocini den Kopf, wenn man ihr die Gretchenfrage zu Debah stellt: "Ich glaube nicht, dass er ein gefährlicher Islamist ist. Er bedient sich nur opportunistisch des Umstandes, dass hier die Mehrheit der 42.000 Einwohner Maghrebiner sind." Die junge Frau, die selbst belgisch-algerische Eltern hat und in Garges aufgewachsen ist, hat von Nachbarn allerdings selbst gehört, wie Debah Kampagne betreibt: "Er läutet an den Türen, und wenn einer öffnet, zeigt er mit dem Finger auf ihn und sagt: 'Du bist Muslim, du musst für mich stimmen.'"

Debah gibt sich konventionell

Dazu befragen kann man den Kandidaten nicht: Wiederholte Presseanfragen lässt er unbeantwortet. Nur auf eine einzige hält er schriftlich fest, er sei nicht Mitglied der "Union der muslimischen Demokraten Frankreichs" (UDMF). Diese Bewegung hatte bei den Europawahlen 2019 in einem Dutzend Vorstädten rund fünf Prozent der Stimmen gemacht, in Garges 7,4 Prozent. Debah verschmäht sogar das Etikett "muslimisch", gibt sich rundum nichtkonfessionell. Zu Themen wie dem islamischen Kopfschleier oder geschlechtergetrennten Besuchszeiten im lokalen Schwimmbad schweigt er sich zumindest in der Öffentlichkeit aus. Auf seiner Facebook-Seite setzt sich Debah für unverfängliche Themen wie Bildung, Arbeit und Sicherheit ein.

Als vergangene Woche ein in Garges aufgewachsener Drogenhändler vor einem Supermarkt aus einem fahrenden Auto erschossen wurde, reagierte Debah umgehend auf seiner Facebook-Seite: Der ihm persönlich bekannte Ermordete sei schon "verurteilt gewesen, weil in Garges geboren". Zugleich verlangt Debah auch mehr Polizeipräsenz in Garges. "Er hat sogar eine Petition gestartet, damit das Kommissariat von Garges rund um die Uhr offen bleibt", sagt Hocini. Nun zeigt sie auf die Straße, wo gerade ein weiß gefärbter Lastwagen vorbeifährt. Debahs Kampagne-Mobil. Laut Hocini zirkuliert es seit Wochen durch die Straßen von Garges. Darauf Debahs Spruch vom Wandel – "le vrai changement".

Wandlung Debahs

Gewandelt hat sich auf jeden Fall Debah. Als junger Mann frequentierte er die Tabligh, eine Vereinigung radikaler Fundamentalisten. Er wurde von ägyptischen Muslimbrüdern ausgebildet und stand dem Genfer Islamisten Tariq Ramadan nahe. In all dem stimmen Pariser Islamexperten überein, ohne angeben zu können, ob Debah diesen Kreisen noch heute nahestehe. Mit Sicherheit gehörte er zu den Mitbegründern des "Kollektivs gegen Islamophobie in Frankreich" (CCIF), dem islamistische Tendenzen vorgeworfen werden.

Kürzlich hat es in Paris eine aufsehenerregende Großdemonstration organisiert. Auch das war ein Zeichen, dass diese Tendenzen im Zunehmen begriffen sind. Der französische Geheimdienst DGSI listet in einem neuen Bericht 150 Wohnviertel oder -siedlungen auf, die landesweit von radikalen Islamisten kontrolliert würden. Welche, bleibt geheim.

Vor den Gemeindewahlen haben die Präfekturen zudem eine Sammelstudie erstellt, laut der sich zehn Wahllisten an eine bestimmte – gemeint ist: islamische – (Glaubens-)Gemeinschaft richten. Darunter sind Listen der UDMF, die das muslimische "M" im Namen mit Attributen "christdemokatischer" Parteien vergleicht. Und darunter findet sich auch Debahs Liste.

Houellebecq-Vergleiche

In Frankreich figurieren diese Tendenzen unter dem Stichwort – oder Schreckgespenst – "politischer Islam". Diesen Begriff prägte Starautor Michel Houellebecq 2015 mit seinem Roman "Unterwerfung", in dem ein muslimischer Kandidat von der Ambivalenz Samy Debahs Präsident wird. Was Fiktion war, werde Realität, behaupten viele Rechts-, aber auch Linkspolitiker wie Pupponi. Einzelne verlangen ein Verbot dieser Gruppierungen, weil sie gegen die laizistische und universelle Verfassung Frankreichs verstoßen. Präsident Emmanuel Macron hat dies Ende vergangenen Jahres abgelehnt, da sie, wie er sagte, keine Gefahr für die Republik darstellten.

Debahs Fiat-Lieferwagen fährt weiter durch die Straßen von Garches, stumm, ohne je anzuhalten. Die Marktbesucher, darunter gebeugte ältere Frauen mit Kopftuch und schweren Plastiksäcken, schauen nicht einmal mehr auf; das blitzende, fast schon amerikanisch anmutende Wahlkampfvehikel gehört in Garges offenbar längst zum Stadtbild. Vor der großen Moschee von Garges halte der Wagen oft, um Flugblätter zu verteilen, erzählt Hussein Mokhtari, der Kandidat der Sozialisten, den hier auf dem Markt alle kennen und grüßen. Der Wahlkämpfer alter Schule, dessen einzige Religion die Republik ist, hält nicht viel von Debah. "Aber ein Salafist ist er deshalb nicht", sagt Mokhtari. "Damit würde man es sich zu einfach machen."

Sieben Moscheen

Garges beherberge heute 20 Prozent Arbeitslose und eine Immigrationsjugend ohne Perspektiven. Deren Frust leite Debah auf seine Mühlen: "Er sagt den jungen Maghrebinern, sie seien doch ausgegrenzt und ausgeschlossen wie der Islam insgesamt", schildert Mokhtari. "Dieser Opferdiskurs zieht." Ebenso geschickt präsentiere sich Debah als "Kandidat gegen das System", meint der joviale Sozialist. Garges sei zerfressen vom politischen Klientelismus. Der konservative Bürgermeister Maurice Lefèvre habe sich in sechzehn Amtsjahren mit der Vergabe von Sozialwohnungen treue Stammwähler erworben. Die anderen, die zu kurz gekommenen Einwohner, seien empfänglich für Debahs Argument, die Muslime müssten zusammenhalten gegen die Franzosen, die Weißen, die sich die Pfründe aufteilten.

Diese Sicht stimmt schon deshalb nicht, weil der abtretende Bürgermeister und sein Nachfolgekandidat Benoît Jimenez die wählerstarke muslimische Gemeinschaft selbst favorisieren: Dank ihnen zählt Garges heute nicht weniger als sieben Moscheen – eine für die Algerier, eine für die Marokkaner, für die Pakistani, die Türken. Diese Gebetsorte gelten als Hort eines offiziellen, gemäßigten Islam. Zumindest bis heute. Bei dieser Gemeindewahl steht nun die Frage im Raum, ob Debah dies mit seinem "wirklichen Wandel" vielleicht ändern würde. (Stefan Brändle aus Garges-lès-Gonesse, 14.3.2020)