"Es gibt keinen endgültigen Schutz – wir müssen uns unserer Verwundbarkeit bewusst werden", so Susanne Ristow.

Foto: Dieter Laakmann

Seit Jahren untersucht Susanne Ristow das Virus in der Kultur- und Medienwissenschaft. Mithilfe der Überschneidung von bildender Kunst und Wissenschaft möchte sie Aufklärung betreiben. Die eigentliche Gefahr sieht sie in panikerzeugenden Falschinformationen aus dem Internet.

STANDARD: Sie bezeichnen sich als "Kulturvirologin" – was genau tun Sie?

Susanne Ristow: Ich beschäftige mich schon seit längerer Zeit vor dem Hintergrund der Wissenschaftsgeschichte mit der Frage, wie sich die Denkfigur des Virus auch auf künstlerische Strategien ausgewirkt hat. Wie haben Künstler dieses Potenzial des Virus genutzt?

STANDARD: Was genau meinen Sie mit Potenzial?

Ristow: Das Virus ist, wie Susan Sontag sehr schön formuliert hat, auch eine Form der Veränderung. Man darf nicht vergessen, dass nur ein kleiner Teil von Viren tatsächlich zu Krankheitserregern wird. Ansonsten sind sie für die Evolution sehr wichtig. Es gibt ein ganzes Warenhaus an Virusmotiven in Kunst, Literatur und Theater. Bei den Dadaisten würde ich eine Frühform dieser Faszination für das Virale verorten. Ich glaube aber nicht, dass Künstler das Phänomen Virus verharmlost haben. Sie fanden es gerade wegen des Gefährdungspotenzials interessant und erkannten, dass es kein Leben im Reinzustand gibt. Der Umgang des fremdgewordenen Eigenen konnte sehr erhellend sein.

STANDARD: Also ging es nicht nur darum, das Schrecken und Leiden darzustellen?

Ristow: Nein. Es ging vielmehr um die Erkenntnis, dass wir einen gemeinsamen Weltkörper haben und es mehr Vertrauen braucht, um in diesen Zusammenhängen existieren zu können. Das, wovon wir gedacht haben, es sei durch den Fortschritt der Wissenschaft im 21. Jahrhundert überwunden, scheint jetzt gerade Risse zu bekommen. Es gibt keinen endgültigen Schutz – wir müssen uns unserer Verwundbarkeit bewusst werden.

Krankheiten und Seuchen wurden schon früh zu Motiven in der Kunstgeschichte. Auch die aktuelle Coronakrise wird in der zeitgenössischen Kunst Spuren hinterlassen, ist sich Susanne Ristow sicher.
Foto: XC. HuA Galleries Berlin/Beijing

STANDARD: Sie beschäftigen sich auch als Künstlerin mit sogenannter Viral Art, nennen ihre Ausstellungen "Viral Love" oder "Vorsicht, ansteckend! Experimente mit Bildern". Wie ernst nehmen Sie das Thema?

Ristow: Es ist absolut ernst, wenn es um eine Ansteckung mit einem Krankheitserreger geht. Aber ebenso ernst ist es auch, von Bildern infiziert zu werden. Derzeit werden wir durch die Digitalkultur mit sehr viel mehr infektiösen Erregern in Kontakt gebracht, als es unser kulturelles Immunsystem gewohnt ist. Dadurch entstehen natürlich panische Reaktionen. Das wird momentan auch im Alltag spürbar: zum Beispiel in Form rassistischer Übergriffe auf Menschen, die wegen ihres Aussehens mit Ansteckung in Verbindung gebracht werden. Hier werden bereits bestehende Ressentiments unter dem Deckmantel des vermeintlichen Schutzes des Lebens ausgelebt.

STANDARD: Sie warnen vor einem "viral outbreak" als evoziertem Angstszenario in Zeiten alarmistischer Strategien. Wie politisch sehen Sie das Thema Corona?

Ristow: Es ist ein Probelauf. Wie weit kann man gehen, wenn es um die Reglementierung der Zivilgesellschaft geht? Was macht das mit den zwischenmenschlichen Beziehungen? Wenn ich das Gefühl habe, der Andere sei eine permanente Gefahr für mich, kann ich ihm nicht mehr mit dem Vertrauen begegnen, das für eine offene Gesellschaft aber notwendig ist. Aktuell erleben wir einen Kulturschock des Soziallebens, der fatale Folgen für unser zukünftiges Zusammenleben haben wird. Deswegen macht es mir ernsthaft Sorgen, wenn der Eindruck entsteht, dass ich ironisch oder scherzhaft über das Virus spreche ...

STANDARD: Aber Sie setzen das Virus auch in einen positiven Kontext?

Ristow: Positiv ist, dass wir ein Gespräch darüber führen und sich mehr Menschen für das Thema interessieren. Wir werden uns den Bedingungen des Lebens in einer globalisierten Welt bewusst. Das heißt jetzt nicht, dass wir alle zu Preppern werden müssen, sondern mehr darauf achtgeben, was nebenan passiert. Wir fangen erst ganz langsam an zu verstehen, dass man nicht einfach die Grenzen dichtmachen kann und damit solche Erreger aussperren – das funktioniert einfach nicht mehr.

Verknüpfung von Kunst und Wissenschaft können als aufklärerisches Instrument nützlich sein. Die wahre Gefahr sind Fakenews über den aktuellen Coronavirus.
Foto: Susanne Ristow

STANDARD: Wollen Sie durch Ihre künstlerische Arbeit die Angst vor Viren nehmen?

Ristow: Es hat ein aufklärerisches Potenzial, darüber zu sprechen. Das ist ähnlich wie im Pestdiskurs, wo plötzlich der Untergang des Abendlandes, apokalyptische Visionen und das Ende aller Zeiten prophezeit wurden. Insofern kann die Aufklärung nützlich sein, um nicht besessen zu werden von den Massen kursierender Informationen.

STANDARD: Wie gefährlich sind amtierende Populisten, wie Trump, die das Thema herunterspielen?

Ristow: Solche politischen Äußerungen sind ohnedies schon epidemisch geworden. Dabei ist das Verharmlosen nicht das Gefährliche, sondern die Behauptungen, es handle sich um Falschinformationen. Jetzt ist die Zeit der Verschwörungstheoretiker angebrochen. Es kursieren schon Fake-News, dass die USA einen Impfstoff gegen das Coronavirus hätten oder dieses sogar aus einem ihrer Labore verbreitet wurde. Das sind ganz klassische Virennarrative, die man auch aus Filmen kennt: Entweder ist es das russische oder das amerikanische Forschungslabor.

STANDARD: Könnte man diese Falschnachrichten auch als eigenen Virus bezeichnen?

Ristow: Definitiv. So wird Panik erzeugt. Das ist in einer solchen Situation auch selbstverständlich, nur haben wir jetzt diese unglaubliche Potenzierung durch das Internet, wodurch es schwierig ist, an verlässliche Informationen zu kommen. Da werden zersetzende Prozesse in Gang gesetzt – das ist die wahre Gefahr.

STANDARD: Haben Sie Angst?

Ristow: Ich persönlich habe keine Angst vor Krankheit, aber davor, was aus diesem Alarmismus entstehen kann. Aber ich weigere mich, mir Angst machen zu lassen. Sonst kann man sich jeden Tag fürchten, wenn man das Haus verlässt – das ist paranoid.

STANDARD: Welche Folgen könnte dieser Alarmismus haben?

Ristow: Das ist nicht absehbar. Extremismus oder Gewaltausbrüche könnten daraus entstehen. Im ganz kleinen Maße sehen wir das bei den stattfindenden Hamsterkäufen. Das sind zwar noch keine panischen Plünderungen, aber man spürt, was alles denk- und machbar ist. Bis vor kurzem war das noch unvorstellbar.

STANDARD: Wird es also zu dystopischen Szenarien kommen?

Ristow: Ich bin kein Freund der Dystopien. Ich glaube, dass es zu einer längerfristigen Krise kommen wird. Solange das Virus nicht mutiert, kann aber auch alles in wenigen Monaten zur Normalität zurückkehren. Dann lautet die Frage, was wir aus dieser Krise lernen. Wir sollten uns auf jeden Fall im Klaren sein, dass solche Erfahrungen in Zukunft häufiger werden können. (Katharina Rustler, 14.3.2020)