Wien – Zwischen "Rockstar der Ökonomen" und einem, der "den Bezug zur Realität verloren hat", wurde er schon als praktisch alles bezeichnet, was das Vokabular für einen Wirtschaftswissenschafter hergibt. Thomas Piketty respektive seine Thesen polarisieren. Der renommierte Ungleichheitsforscher hat am Freitag in der Wiener Arbeiterkammer sein neues Buch Kapital und Ideologie vorgestellt.

Geplant war eigentlich ein Auditorium von 900 Menschen, dem Vorhaben hat allerdings das sich rasant ausbreitende Coronavirus einen Strich durch die Rechnung gemacht. Der Vortrag wurde kurzerhand in eine Präsentation via Livestream umgewandelt. Lediglich eine Handvoll Ökonomen und Studenten waren zugegen.

Der Ökonom Thomas Piketty hat seine wissenschaftliche Laufbahn dem Kampf gegen die Ungleichheit gewidmet. Er fordert radikale Umverteilung und eine Bewusstseinsänderung.
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Nationalistische Falle

Eingangs warnte Piketty davor, in eine nationalistische Falle zu tappen: "Eine Diskussion über weiße, europäische Identität ist leichter zu führen, als nach Lösungen für das Problem der zunehmenden Ungleichheit zu suchen." Es brauche globales Umdenken, um nicht in eine neuerliche Wirtschaftskrise zu schlittern.

Im Vorgängerbuch Das Kapital im 21. Jahrhundert von 2013 beschreibt der Professor der Pariser École d'Économie, wie die Einkommensverteilung immer ungleicher wird. Darum geht es auch im aktuellen 1300-Seiten-Wälzer.

Sowohl das Buch als auch Pikettys Vortrag sind ein Streifzug durch die Geschichte, angefangen bei der Französischen Revolution über Kolonialisierung und Sklaven hin zum Scheitern des Kommunismus und zu politischen Großereignissen der Jetztzeit wie dem Brexit.

Corona als Initialzündung

Im Kampf gegen das Coronavirus und in den daraus resultierenden Maßnahmen ortet Piketty eine Chance zur Bewusstseinsänderung. Das verstärkte Homeoffice und die Umsetzung drastischer Eingriffe in die Wirtschaft könnten diese herbeiführen. Die Krise führe Regierungen vor Augen, wie sehr sie die Wirtschaft regulieren können. Den Arbeitenden werde bewusst, dass Homeoffice funktioniert. Vor allem aber kritisiert er, dass in Anbetracht einer gesundheitlichen Krise drastische Maßnahmen möglich seien, nicht aber, wenn es um die Umwelt geht.

Vor ein paar Monaten sei es etwa nicht auszudenken gewesen, Flüge zu reduzieren, um den CO2-Ausstoß zu verringern. Grund dafür: die ökonomischen Kosten. "Und jetzt, ganz plötzlich, wegen einer Gesundheitskrise, blockieren wir Flüge und schicken Leute nach Hause", sagte Piketty. Das zeige, dass Europa ein ausgefeiltes System im Umgang mit Gesundheitsrisiken habe, aber keine vergleichbaren Entscheidungsstrukturen bei langfristigen Risiken wie bei Umweltproblemen.

Soziale Ungleichheit

In sozialer Ungleichheit sieht Piketty primär ein politisches und ideologisches Problem. Eliten würden Begründungen schaffen, um Ungleichheit zu rechtfertigen. Deswegen fordert er eine radikale Umverteilung. Der Franzose plädiert für eine Einmalzahlung in der Höhe von 120.000 Euro für jeden Bürger, finanziert durch Steuereinnahmen. Das würde die Chancengleichheit erhöhen, ohne zu einer Gleichmacherei zu führen, erben doch die Kinder reicher Eltern deutlich mehr. Auch progressive Erbschaftssteuern von bis zu 90 Prozent nennt er als Option. (Andreas Danzer, 13.3.2020)