Rudolf Anschober hat den momentan wohl heikelsten Job der Republik: Was er auch entscheidet, es hat enorme Folgen – in guter wie in schlechter Weise. Von diesem Druck lässt er sich, zumindest äußerlich, nicht beeindrucken. Ruhig, gelassen und freundlich empfing er den STANDARD in seinem Büro, knapp vor der Pressekonferenz mit dem Bundeskanzler, in der weitere, weitreichendere Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus in Österreich verkündet wurden. Hemdsärmelig, aber mit Krawatte, verströmt Anschober gleichzeitig Ruhe und Geschäftigkeit. Der Tenor des Gesprächs: Die Lage ist ernst, aber die Regierung habe einen haltbaren Plan.

Anschober zeigt den Unterschied zu Italien: In Österreich ist der Großteil der Erkrankten jünger als im Nachbarland, daher auch weniger stark gefährdet.
Foto: Heribert Corn

STANDARD: Österreich steht vor einem Shutdown. Das heißt, das öffentliche Leben kommt in den kommenden Wochen zum Erliegen. Warum ist das notwendig?

Anschober: Das Befürchtete ist passiert. Aus einer regionalen Epidemie, die in China ausgebrochen ist, ist binnen sehr kurzer Zeit, also seit Jahresbeginn, eine globale Pandemie geworden. Das bedeutet eine weltweite Krise, was die Gesundheitssysteme betrifft. Darauf gibt es, so sagen uns die Experten, nur eine Antwort: Wir alle müssen unsere sozialen Kontakte reduzieren, um damit das Ansteckungsrisiko zu verringern. Wir werden in den kommenden Monaten ...

STANDARD: Sie gehen von Monaten aus?

Anschober: Ja, das müssen wir. Da werden wir anders leben und miteinander ein Teil der Lösung sein müssen. Das heißt, wir müssen uns extrem um die Gruppen kümmern, die besonders gefährdet und daher besonders schutzbedürftig sind: Menschen über 70, Menschen mit schwerer Vorerkrankung wie Krebs, schwerer Diabetes, Herz-Kreislauf- und Lungenerkrankungen. Da müssen wir schauen, dass wir bei dieser großen Personengruppe möglichst wenig Ansteckung erreichen. Das geht nur durch Herunterfahren unseres Alltagslebens.

STANDARD: Denken Sie an drei Monate, wie in China, oder länger?

Anschober: Das können wir nicht seriös beantworten. Laut WHO sind wir am Anfang eines Wegs und in einer Situation, in der uns die Zahlen in doppelter Hinsicht beunruhigen. In Italien ist die Zahl der Erkrankungen heftig. Wenn man sich die Blogs italienischer Ärzte ansieht, liest sich das teils wie aus einer Kriegsberichterstattung. Die Strukturen sind dort teils am Zusammenbrechen oder bereits zusammengebrochen. Für uns geht’s darum, genau das durch gravierende Maßnahmen zu verhindern. Wir brauchen eine Zeitverzögerung und eine Abflachung der Neuinfektionen. Je später ich das mache, desto schwieriger ist es, diese exponentielle Kurve zu beeinflussen. Je früher man eingreift, desto eher ist das noch machbar. Deshalb dieser Versuch und dieser Einschnitt, den wir auch früher gesetzt haben als ursprünglich geplant und früher als viele andere Länder um uns.

STANDARD: Was erwarten Sie von den Menschen in Österreich?

Anschober: Ich appelliere leidenschaftlich an uns alle: Wir brauchen einen neuen Zusammenhalt, eine neue Solidarität in unserer Gesellschaft. Diese Grundstimmung ist immer stärker spürbar. Jeder muss wissen, dass er den anderen und sich selbst schützen muss. Alle können einen Beitrag leisten. Wir werden in den kommenden Tagen sehr viel informieren. Und wir werden unser Möglichstes tun, unsere Spitalsinfrastruktur möglichst zu schützen. Denn das ist entscheidend. Deshalb die Besuchsverbote in den Spitälern. Das ist nicht lustig für die Patientinnen und Patienten und auch nicht für die Angehörigen, das weiß ich. Aber dennoch: Wir müssen mit aller Kraft vermeiden, dass das Virus dort eingeschleppt wird und wir Abteilungen schließen müssen, was in Einzelfällen schon passiert ist. Das würde unsere gesamte Spitalsinfrastruktur infrage stellen. Und wir müssen strikt darauf achten, dass uns genügend Akutbetten zur Verfügung stehen. Daher verschieben wir Operationen, die jetzt akut nicht unbedingt erforderlich sind.

Podcast: Wie schlimm wird es wirklich?

STANDARD: Angesichts dessen, dass jetzt drastische Maßnahmen gesetzt werden – hätte man nicht doch früher und massiver eingreifen müssen?

Anschober: Wir haben ja sehr früh Maßnahmen gesetzt, und sie haben hervorragend funktioniert. Als einziges Land in Europa haben wir über die Hotline-Nummer 1450 frühzeitig Patientinnen und Patienten umgeleitet und so die Spitalsambulanzen entlastet.

STANDARD: Man hört von elendslangen Wartezeiten und eher kursorischen Antworten des Hotline-Personals zu den Symptomen.

Anschober: Ich weiß, dass viele an der Belastungsgrenze sind. Die dafür zuständigen Bundesländer werden hier weiter Personal aufstocken. Täglich rufen fast 25.000 Menschen an, die Fragen haben – und die Symptome der Grippe und des Coronavirus unterscheiden sich zunächst nur marginal. Aber es ist wichtig, dass man dort anruft, wenn man vermeint, dass man Symptome hat. Nur so können wir eine optimale Versorgung gewährleisten. Weil das von Beginn an so gut funktioniert hat, haben wir verhindert, dass viele in die Spitalsambulanzen oder zu niedergelassenen Ärzten gehen und das Virus verbreiten.

STANDARD: Wie gut funktioniert die Isolierung von Erkrankten?

Anschober: Aus unserer Sicht sehr gut, das war der zweite Schritt der Maßnahmen, in Übereinstimmung mit den europäischen Gesundheitsbehörden.

STANDARD: Wie wird diese Gesundheitskrise Österreich verändern?

Anschober: Ich habe vor meinem geistigen Auge ein "Team Österreich", in dem alle zusammenhalten und jeder und jede einen Beitrag leistet in Solidarität mit den am stärksten Gefährdeten. Und das Gute ist: Diese Bewegung des Zusammenhalts erleben wir bereits. Jene, die erkrankt sind, bleiben in Quarantäne. Jene, die gesund sind, beschränken sich selbst und sagen die geplante Familienfeier ab. Nachbarn helfen einander mit Einkäufen etc. Der Zusammenhalt wird am Ende das Entscheidende sein. Ich finde es sehr ermutigend, dass immer mehr Menschen das leben. Ich bin auch sehr überrascht, wie schnell die Verhaltensänderungen funktionieren: wie man sich begrüßt, auf den Händedruck verzichtet, dass man sich regelmäßig die Hände wäscht, das haben sehr, sehr viele bereits verinnerlicht. Ich finde es beruhigend, dass wir in der Lage sind, tradierte Verhaltensweisen sehr rasch zu ändern. Das wird es jetzt vielfach brauchen.

Anschober: "Ich finde es beruhigend, dass wir in der Lage sind, tradierte Verhaltensweisen sehr rasch zu ändern."
Foto: Heribert Corn

STANDARD: Andererseits kursieren viele Gerüchte: Der Notstand wird ausgerufen, es gibt ein Ausgehverbot für alle. Was ist da dran?

Anschober: Es kursieren sehr viele Fake-News. Immer dann, wenn eine Krise herrscht und Menschen verunsichert sind, machen manche ein Geschäft damit, dass sie weitere Panik erzeugen und durch Fake-News Verunsicherung betreiben. Daher: Maximale Information und Transparenz von unserer Seite, wir achten darauf, dass wir nichts verschweigen oder unter den Teppich kehren und dass alle Informationen auf Punkt und Beistrich stimmen.

STANDARD: Sie schließen Ausgehverbote aus?

Anschober: Nichts davon ist in Planung. Das Credo ist: Die richtige Maßnahme zur richtigen Zeit, und wir haben jetzt die wichtigsten beschlossen. In zwei Wochen werden wir wissen, ob sie wirken.

STANDARD: Soll man sich mit Lebensmitteln eindecken?

Anschober: Nein, bitte keine Hamsterkäufe. Die Lebensmittelversorgung ist zu 100 Prozent gesichert, da muss sich niemand sorgen.

STANDARD: Es fällt auf, dass Sie Ihre Worte mit viel Bedacht wählen – haben Sie sich beraten lassen, was Sie sagen und was Sie nicht sagen sollten?

Anschober: Nein, das mache ich nach Bauchgefühl, und ich will authentisch bleiben.

Anschober: "Das Credo ist: Die richtige Maßnahme zur richtigen Zeit, und jetzt haben wir die wichtigsten beschlossen. In zwei Wochen wissen wir, ob sie wirken."
Foto: Heribert Corn

STANDARD: Was konkret befürchten Sie vom Coronavirus?

Anschober: Das Coronavirus ist seit seiner Entdeckung relativ stabil, es mutiert nicht. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte ist, dass das Virus sehr ansteckungsfähig ist und im Gegensatz zur Grippe zu einer höheren Sterblichkeit führt. Die Meinungen der Expertinnen und Experten divergieren ein wenig, aber wir gehen derzeit von einem Verhältnis eins zu zehn aus: Auf einen Grippe-Todesfall kommen zehn Corona-Todesfälle. Die größten Probleme entstehen bei Älteren und den vorher erwähnten Risikogruppen. Da habe ich aber auch eine gute Nachricht: Wir sehen in der Statistik, dass der Großteil der Erkrankten in Österreich zwischen 25 und 55 Jahre alt ist – und damit nicht so stark gefährdet. Das ist anders als in Italien. Warum, wissen wir derzeit nicht. Die zweite gute Nachricht ist: China hat 45.000 seiner Erkrankten analysiert und ist draufgekommen, dass über 80 Prozent der Erkrankungen relativ harmlos verlaufen. Das ist gut. Vier bis fünf Prozent haben jedoch teils lebensgefährliche Verläufe. Deshalb braucht es eine ausreichend starke Spitalsinfrastruktur.

STANDARD: Dennoch ist auch die Grippe, die Influenza, ansteckend und gefährlich. Warum bleiben wir bei Grippewellen so ruhig, und warum lässt sich dagegen kaum jemand impfen?

Anschober: Darüber denke ich auch schon seit Wochen nach. In Österreich sind aktuell 100.000 Menschen an Grippe und grippe-ähnlichen Infekten erkrankt. In zwei Wochen wird die Grippewelle abgeklungen sein. Das wird unser Gesundheitssystem entlasten. Auch deshalb setzen wir auf Zeitgewinn durch unsere Maßnahmen gegen Corona. Wir werden für Corona-Patienten viel Platz zur Versorgung in den Spitälern brauchen.

STANDARD: Sie haben gesagt, Sie wünschten sich jetzt "noch mehr Europa". Wie meinen Sie das?

Anschober: Es geht um eine optimale Abstimmung, eine gemeinsame Bewältigung der Krise. Ein Beispiel, wie es nicht sein kann: Wir hatten eine intensive Auseinandersetzung mit Deutschland in den vergangenen zwei Wochen gehabt, weil Lkws mit medizinischem Material, etwa Masken oder Schutzkleidung, nicht nach Österreich weiterfahren durften. Deutschland hat ein Exportverbot verhängt. Das haben wir jetzt mithilfe meines Kollegen Jens Spahn gelöst – aber ich finde es absurd, dass so etwas in Europa sein kann. Europa hat eine Riesenverantwortung in dem Bereich, viele sind engagiert. Aber was die gemeinsame Bewältigung der Krise betrifft, haben wir noch Luft nach oben.

STANDARD: In Norditalien entstehen aus der Versorgungsnot der Spitäler gerade schwierige ethische Situationen: Wem gibt man das Beatmungsgerät, wem nicht? Müssen wir uns darauf auch in Österreich einstellen?

Anschober: Nein, in dieser Dramatik nicht. Darum geht es gerade. Um diese Krisensituation vermeiden zu können, schonen und schützen wir jetzt schon unsere Spitalsinfrastruktur, etwa durch das Verschieben akut nicht notwendiger Operationen. Das heißt nicht, dass nicht mitunter Krisensituationen eintreten können, in denen wir unorthodox arbeiten werden – eben etwa durch die Verschiebung von nicht notwendigen Operationen.

STANDARD: Welche wirtschaftlichen Konsequenzen wird die jetzige Krise haben, und was tut die Regierung dagegen?

Anschober: Das ist eine ernste Situation, und wir müssen vor allem die kleinen und Kleinststrukturen unserer Wirtschaft schützen. Wir präsentieren am Wochenende ein Unterstützungspaket. Auch hier geht es um Solidarität, denn wir brauchen die Nah- und Kleinversorger, und sie brauchen uns Konsumenten und Konsumentinnen.

STANDARD: Vom Nulldefizit wird sich die Regierung wohl vorerst verabschieden?

Anschober: Für Finanzminister Blümel ist es auch gerade nicht einfach, auch für ihn hat die Bewältigung dieser Krise die höchste Priorität. Er arbeitet gemeinsam mit Werner Kogler unter Hochdruck an finanziellen Unterstützungsmaßnahmen. Wir sind auch sehr froh, dass die EU-Kommissionspräsidentin ein Unterstützungspaket von 48 Milliarden Euro in Aussicht gestellt hat – und Investitionen in die Forschung. Das brauchen wir dringend, umso mehr, als es gute Chancen gibt, dass wir in ein paar Wochen ein wirksames Medikament bekommen. Mit einem Impfstoff ist freilich erst gegen Jahresende zu rechnen.

STANDARD: Reduziert auch die Bundesregierung ihre sozialen Kontakte miteinander?

Anschober: Wir stellen schrittweise auf Videokonferenz um, ebenso auf EU-Ebene. Und wir stellen schrittweise in den Ministerien auf Homeoffice um. Dennoch bleiben wir eng abgestimmt, und das funktioniert sehr gut. Wobei es Berufe gibt, die wir dringend vor Ort brauchen, wo es sogar Urlaubssperren gibt – zum Beispiel in den Gesundheitsberufen und bei der Polizei.

STANDARD: Warum brauchen wir Polizei gerade dringend?

Anschober: Etwa zur Unterstützung der Arbeit der Gesundheitsbehörden.

STANDARD: Was tun Sie persönlich für sich?

Anschober: Das jedem und jeder Angeratene: regelmäßiges Händewaschen, kein Händeschütteln, kein Begrüßungsbussi – und die Struktur aufrechterhalten, die ich nach meiner Erkrankung 2012 für mich auf gebaut habe: regelmäßiges, gesundes Essen, regelmäßig laufen gehen, mit dem Hund morgens und abends länger spazieren gehen und Qigong in der Früh am Donaukanal. (Petra Stuiber, 13.3.2020)