Hat man in Ischgl die Gefahr rechtzeitig erkannt? Diese Frage stellt sich immer mehr. Warum in Tirol immer noch Lifte laufen, verstehen Intensivmediziner nicht, die vor Zusatzbelastungen des Gesundheitssystems warnen.

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Innsbruck – Die Nachrichten aus Tirol, dass das Paznauntal und St. Anton am Arlberg seit Freitag, 14 Uhr, unter Quarantäne stehen, verdeutlichen, wie ernst die Situation im westlichen Bundesland ist. Die Region gilt im europäischen Ausland als Hochrisikogebiet, steht mit der chinesischen Provinz Hubei und der norditalienischen Lombardei somit auf einer Stufe. Diese internationale Einschätzung unterstreicht, dass die von den österreichischen Behörden gesetzten Maßnahmen keineswegs überzogen sind.

Allerdings wird auch immer mehr Kritik laut, die Quarantäne komme zu spät. Berichte aus den Herkunftsländern jener Touristen, die zuletzt im Paznaun und St. Anton urlaubten, zeichnen ein sehr deutliches Bild. Offenbar wurde das Virus von Tirol ausgehend tagelang nach ganz Europa exportiert. In Island wurde Ischgl namentlich bereits am 5. März als Hochrisikoregion genannt, nachdem 14 Urlauber infiziert aus Tirol nach Island zurückgekehrt waren.

Welchen Informationen wurde vertraut?

Am selben Tag veröffentlichte die Tiroler Landesregierung ein Statement, wonach es "aus medizinischer Sicht unwahrscheinlich" sei, dass sich die Urlauber in Tirol angesteckt hätten. Auf Nachfrage des STANDARD erklärt dazu die Landesregierung, dass man von einer Person aus Island, die im selben Flugzeug wie die 14 Infizierten war, die Information erhalten habe, dass die Airline ihren Passagieren mitgeteilt habe, es sei eine bereits infizierte Person im Flieger gewesen, die sich in Italien angesteckt habe. Warum die Tiroler Behörden diese Aussage einer Privatperson als Grundlage ihrer Entwarnung nutzten, wird noch zu hinterfragen sein.

Jedenfalls wurde am 8. März bekannt, dass in Ischgl ein aus Deutschland stammender Barkeeper mit norwegisch klingendem Namen positiv auf das Coronavirus getestet worden ist. Der Mann arbeitet in der Après-Ski-Bar Kitzloch. In den folgenden Tagen kamen immer mehr Fälle aus ebendieser Bar dazu. Bis zu diesem Samstag sind die meisten Neuinfektionen in Tirol auf diesen Herd zurückzuführen, und die Zahlen steigen täglich. Europaweit dürften mittlerweile, so internationale Medienberichte, mehrere hundert Infizierte in Island, Großbritannien, Dänemark, Deutschland und Norwegen auf den Herd Ischgl zurückzuführen sein. Wie viele es genau sind, ist derzeit nicht festzustellen.

Hälfte aller Fälle in Dänemark

Beispiele: In Dänemark waren bis Samstag mehr als 200 positiv getestete Coronainfektionen registriert. Die Gesundheitsbehörden konnten in vielen Fälle einen Link zu Ischgl herstellen, weil ganze Gruppen von heimgekehrten Skifahrern inzwischen entweder positiv getestet sind waren oder Symptome aufweisen. Sie gehen davon aus, dass sie für die Verbreitung des Virus in Clustern verantwortlich sind, weil sie selber nicht wussten, dass sie infiziert sind und ganz normal ihren Alltag fortsetzten. Experten schätzen, dass gut die Hälfte aller Coronafälle in Dänemark auf Ansteckung in Ischgl zurückzuführen sein könnten.

Ähnliche Berichte gibt es aus Norwegen, nur sind die Fallzahlen geringer. Der "Guardian" schreibt von einem Arzt aus Chichester in Großbritannien, der mit fünf Freunden in Ischgl auf Urlaub war. Sie alle hatten nach der Rückkehr vor kurzem die üblichen Symptome von Corona. Das Ergebnis von Tests steht noch aus.

"Ballermann der Alpen"

Deutlich könnten die Folgen der Ausbreitung über den Hotspot Ischgl aber in Deutschland werden. Das Skiresort ist bei Deutschen besonders beliebt, gut die Hälfte der 1,4 Millionen Übernachtungen in dem internationalen Skiort, oft als "Ballermann in den Alpen" tituliert, fallen auf Deutsche. Aber nicht nur Hotelgäste sind häufig, auch sogenannte "Tagesfahrten" mit Bussen aus dem nahen Baden-Württemberg und Bayern sind beliebt. Nach STANDARD-Recherchen nimmt die Zahl der positiv getesteten Coronafällen durch heimkehrende Skifahrer in den vergangenen Tagen auch hier dramatisch zu.

Einer dieser "Cluster" ist in Hamburg, wo man am Freitag bei 80 Fällen stand, wie die Zeitung "Die Welt" berichtete, viele davon waren zuvor in Ischgl. Lokale Medien in Landkreisen in Baden-Württemberg, Hessen, Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen berichten seit Tagen von kleineren Gruppen von Skifahrern, die in Ischgl waren und unter denen es positiv getestete Personen gibt. So etwa sechs Urlauber aus dem Raum Gütersloh in Nordrhein-Westfalen.

Das hessische Gesundheitsministerium führt auf seiner Homepage eine Liste von positiv getesteten Coronainfizierten. Unter den Neuinfizierten findet sich ebenfalls auffallend oft Ischgl als vermuteter "Expositionsort". Ähnliche Berichte gibt es im benachbarten Mainz in Rheinland-Pfalz. Erschwerend bei der Einschätzung der Zahl der Fälle insgesamt kommt hinzu, dass es im föderalen Deutschland offenbar keine zentrale Erfassung beziehungsweise entsprechende konkrete Warnungen gibt. Das Bundesgesundheitsministerium in Berlin rief Deutsche, die aus Österreich heimkehren, am Freitag nur sehr allgemein dazu auf, vierzehn Tage freiwillig zu Hause zu blieben und vorsichtig zu sein wegen des Ansteckungsrisikos.

Entscheidungsfindung dauerte mehrere Tage

In Tirol reagierte die Landesregierung am 10. März, indem sie verordnete, alle Ischgler Après-Ski-Bars mit sofortiger Wirkung zu schließen. Warum erneut zwei Tage vergangen sind, bis die Behörden reagierten, wird damit erklärt, dass man erst zu diesem Zeitpunkt ausreichend gesicherte Informationen hatte, auf Basis derer die Entscheidung gefällt wurde.

Dass die Quarantäne für das Paznaun und St. Anton am Arlberg erst mit Freitag, dem 13. März, also acht Tage nach der isländischen Warnung, verhängt wurde, wirft Fragen auf, die die Verantwortlichen werden beantworten müssen. Ebenso, warum man nun bis Sonntag weiter Liftbetrieb in den Tiroler Skigebieten erlaubt.

Denn genau das kritisieren etwa Tiroler Intensivmediziner scharf, die sich derzeit mit den Berechnungen zur benötigten Bettenkapazität in den kommenden Wochen befassen. Sie sagen, dass jeder weitere Tag Skibetrieb auch weitere Frischverletzte in den Spitälern bedeutet. Diese binden wiederum Ressourcen, die man nicht mehr habe. Die Prognosen zum erwarteten Patientenaufkommen seien "alarmierend", berichten die Ärzte, daher müsse nun dringend alles getan werden, um weitere Belastungen des Gesundheitssystems zu verhindern.

Covid-19 erklärt.
DER STANDARD

Geordnete Abreise sicherstellen

Vonseiten der Landesregierung heißt es dazu, dass man die Lifte offen halte, um ein Chaos bei der gleichzeitigen Abreise von zehntausenden Urlaubern zu verhindern. Man wolle vermeiden, dass sich nun in Hotellobbys oder anderen Orten größere Menschenansammlungen bilden. Allerdings suggeriert die Beibehaltung des Seilbahnbetriebs vielen Einheimischen offenbar, dass man weiter bedenkenlos Skifahren gehen könne. Am Samstag verabredeten sich immer noch Menschen auf den Pisten. Die Webcams der Skigebiete zeigten normalen Betrieb.

Die Frage der Ärzte, warum man so spät reagiere und die Seilbahnen bis Sonntag geöffnet bleiben, stelle sich nicht, sagt Franz Hörl, Obmann des Fachverbands der Seilbahnen in der Wirtschaftskammer Österreich sowie ÖVP-Nationalratsabgeordneter. Die Bescheide zur Schließung der Seilbahnen seien noch in Arbeit. Man habe sich mit der Politik am Donnerstag auf einen "Konsens" geeinigt, weil diese eine Schließung nach dem Betrieb am Sonntag forderte. Hörl selbst sprach am Freitag noch davon, dass diese Maßnahme für viele Skigebietsbetreiber "unverständlich" sei, weil "zwei Drittel des Landes in keiner Weise derzeit vom Coronavirus berührt" seien.

Ischgls Bürgermeister Werner Kurz sagt, man habe nicht zu spät reagiert: "Wir haben gehandelt, wie die Behörden es uns vorgegeben haben." (Steffen Arora, Thomas Mayer, 14.3.2020)