Während es anderswo gerade darum geht, die Krankheit Covid-19 möglichst einzudämmen und die Zahl der Ansteckungen zu verkleinern, geht Großbritannien eigene Wege: "Es geht nicht darum, dass niemand die Krankheit bekommt, das ist nicht möglich und auch nicht wünschenswert", sagte Patrick Vallance, der wichtigste wissenschaftliche Berater der Regierung, am Donnerstag bei der Präsentation des britischen Corona-Pandemieplans. An seinen Plänen und denen der Londoner Regierung gab es bald harsche Kritik. Am Samstag kündigte London daher doch Eindämmungsmaßnahmen an. Vor allem plant man aber offenbar auch harte Maßnahmen, die dem Schutz von Menschen über 70 Jahre dienen sollen. Ihnen könnten laut einem Bericht von ITV News möglicherweise vier Monate Isolation bevorstehen.

Beim Kernkonzept bleibt man aber: "herd immunity", Herdenimmunität. Der Plan, mit dem London der Krankheit entgegentreten will, sieht vor, dass genug Menschen zur richtigen Zeit an Covid-19 erkranken. Damit soll ein ausreichender Grad an Immunität in der Bevölkerung aufgebaut werden, um die Krankheitswelle wieder zum Abklingen zu bringen. Rund 60 Prozent der Bevölkerung würden dabei wohl infiziert werden, das sind etwa 40 Millionen Britinnen und Briten, erklärte Vallance tags darauf dem TV-Sender Sky News. Geschützt werden sollten dabei allerdings jene, bei denen Covid-19 schwer verläuft: ältere Menschen und chronisch Kranke. Wie am Abend bekannt wurde, sind dafür harte Maßnahmen geplant: Menschen über 70 Jahre könnten für bis zu vier Monate isoliert werden, schreibt ITV News. Um ihre Versorgung zu gewährleisten, sei man unter anderem mit Diensten wie Uber und Deliveroo in Gesprächen. Die Maßnahmen würde demnach in fünf bis 20 Tagen in Kraft treten.

Patrick Vallance, wissenschaftlicher Berater der britischen Regierung, bei Sky News.
Sky News

Bisher gibt es kaum Schutzmaßnahmen in Großbritannien. Laut offiziellen Zahlen hatten sich bis Freitagabend rund 800 Menschen mit Sars-CoV-2 infiziert. Die tatsächliche Zahl der Virusträger dürfte aber laut den am Donnerstag vorgestellten Schätzungen der Regierung bei bis zu 10.000 Personen liegen. Es gelten vorerst nur wenige Einschränkungen für Großveranstaltungen, auch wenn einige – etwa Fußballspiele – trotzdem bereits ausgesetzt sind. Weitere könnten, nach Kritik an den Plänen der Regierung, aber nun folgen: Ein entsprechendes Gesetz solle kommende Woche beschlossen werden. Auch zusätzliche restriktive Maßnahmen, die später in Kraft treten könnten, zählt ITV News auf: mögliche Schulschließungen etwa, aber auch die Nutzung von Hotels als Ausweichkrankenhäuser.

Vorerst bleiben viele Regelungen aber aufrecht: Besuche in Altersheimen sind weiterhin erlaubt. Menschen über 70 und solche mit Vorerkrankungen sollen laut Anweisung der Regierung lediglich keine Kreuzfahrten antreten, Schulen Auslandsreisen möglichst absagen.

Ohne starke Symptome kein Test

Wer an Symptomen von Covid-19 leidet – "ein neuer, anhaltender Husten und erhöhte Temperatur" –, solle sieben Tage in Selbstisolation verbringen, rät die Regierung. Werde die Erkrankung nicht schlimmer, solle man aber nicht den Notdienst anrufen. In keinem Fall solle man selbstständig zum Arzt gehen. Tests soll es für Personen mit mutmaßlich leichten Covid-19-Verläufen nicht mehr geben, Zahlen werden nur noch bei Untersuchungen in Krankenhäusern erhoben, um dort die Weiterverbreitung des Virus zu verhindern. Nur in Schottland sind zusätzlich auch Veranstaltungen für mehr als 500 Personen untersagt worden.

Mark Halperin, Psychologe der britischen "Nudge Unit", erklärt, wie empfindliche Gruppen geschützt werden sollen.

Erst später, erklärte Mark Halperin, ein wissenschaftlicher Berater der auf Gruppenpsychologie spezialisierten "Nudge Unit" der britischen Regierung, jüngst der BBC, sollen Gruppen mit höherem Risiko dann stärker isoliert werden oder, wie er es in einem Vergleich mit der Insektenwelt beschreibt, "sich verpuppen". Wenn die Infektionswelle wieder abklingt, sollen sie dann die Isolation wieder verlassen und einer immunisierten und nicht mehr ansteckenden Gesamtbevölkerung gegenübertreten – das ist die Theorie.

Entscheidend dafür sei auch der Zeitpunkt, so die Idee des Londoner Kabinetts: Handle man zu früh, laufe man Gefahr, eine "Ermüdung" hervorzurufen und die Krankheitswelle unnötig in die Länge zu ziehen. Und handle man zu stark, riskiere man zusätzlich einen weiteren Ausbruch: "Wenn man etwas sehr stark unterdrückt, dann kommt es zurück. Und es kommt zum falschen Zeitpunkt zurück", zitiert die "Financial Times" Chef-Wissenschaftsberater Vallance.

Höhepunkt im Frühsommer

Die britische Regierung zielt dabei auf den Frühsommer: Im Mai und Juni rechnet man damit, die Spitze der Infektionswelle erreicht zu haben – deshalb hat Premier Boris Johnson auch bereits die dann geplanten Lokalwahlen absagen und auf das kommende Jahr verlegen lassen. Während des Höhepunkts der Covid-19-Welle sind freilich auch andere weitergehende Maßnahmen geplant – denn auch in Großbritannien rechnet man mit der in Österreich zuletzt bekanntgewordenen Kurve, die die Zahl der zu erwartenden Fälle der Kapazität des Gesundheitssystems NHS gegenüberstellt.

Die Grafik mit unterschiedlichen Kurven für den Covid-19-Verlauf, hier die österreichische Version, ist auch in Großbritannien Teil der Planungen.

Dieses verfügt über 6,6 Intensivbetten je 100.000 Einwohner (Österreich: 23,4). Nach den Plänen der Regierung sollen mehrere Firmen nun verpflichtet werden, Beatmungsgeräte zu bauen. Zu viele gleichzeitige Fälle kann das System also auch in Großbritannien nicht verkraften. Wohl aber sind es in den Sommermonaten deutlich mehr als im Winter und Herbst, weshalb man die Kurve auch nicht so weit abflachen lassen will, dass ein erneuter starker Ausbruch in diesen Monaten droht, wenn auch die saisonale Grippe wieder mehr Fälle produziert.

"Die schlimmste Gesundheitskrise dieser Generation"

Premier Boris Johnson geht jedenfalls einen anderen Weg als sein in Sachen Coronavirus-Maßnahmen ebenfalls zögerlicher US-amerikanischer Verbündeter Donald Trump: Verharmlosung des Virus ist von ihm nicht zu hören. Johnson hat die Britinnen und Briten bei der Vorstellung des Plans auf einen harten und traurigen Sommer vorbereitet: Es handle sich um "die schlimmste Gesundheitskrise dieser Generation", sagte er am Donnerstag, viele Familien müssten sich darauf einstellen, "ihre Liebsten vorzeitig zu verlieren". Johnson verteidigte dabei aber auch den Kurs seiner Regierung: Es sei wichtig, für härtere Maßnahmen später den richtigen Zeitpunkt zu finden. Stecke man die Bevölkerung zu früh in Selbstisolation, wären viele zum eigentlichen Höhepunkt der Epidemie frustriert und würden sich nicht mehr an die Vorgaben der Regierung halten.

Johnsons Rede zu Beginn, die wissenschaftlichen Erläuterungen von Berater Patrick Vallance beginnen um die Acht-Minuten-Marke dieses Videos.
10 Downing Street

Am zögerlichen Plan der britischen Regierung hat sich jedenfalls bereits massive Kritik aufgebaut. Johnsons ehemaliger Konkurrent um den Premiersposten, Ex-Entwicklungshilfeminister Rory Stewart, nannte es einen "ernsthaften Fehler", nicht früher striktere Maßnahmen zu setzen. Ein Treffen Johnsons mit der Opposition verlief offenbar wenig harmonisch, Labour-Chef Jeremy Corbyn habe auf die Frage, wieso man sich so anders verhalte als andere europäische Staaten, keine ausreichende Antwort erhalten, hieß es danach. Schattenfinanzminister John McDonnell sagte, Johnson habe sich "selbst von seiner internationalen Verantwortung isoliert".

DER STANDARD

"Schlafwandelnd in den Hurrikan"

Auch aus wissenschaftlicher Sicht gibt es Kritik an der Herdenimmunitäts-Idee, einem Konzept, das gewöhnlich eher für Impfungen und nicht für die Durchseuchung der Bevölkerung verwendet wird. Richard Horton, Chefredakteur des vermutlich wichtigsten medizinischen Journals "The Lancet", wirft Johnson und Gesundheitsminister Jeremy Hunt vor, sie würden "Roulette mit der Gesundheit der britischen Bevölkerung spielen" und "schlafwandelnd in einen Hurrikan spazieren". Zudem, betonen andere Wissenschafter, sei unklar, wie lange die bisher beobachtete Immunität gegen Covid-19 nach einer Erkrankung anhält. Dazu gibt es noch keine belastbaren Zahlen, erklärte etwa Ex-WHO-Mitarbeiter Anthony Costello dem "Guardian". Virologe Jeremy Rossman sagte dem britischen Ableger von "Wired", es sei viel zu früh, eine flächendeckende Verbreitung von Covid-19 als gegeben hinzunehmen und diese nicht mehr zu bekämpfen.

Außerdem würden nach dem Ende der "Verpuppung"-Phase ältere und empfindliche Menschen zwar womöglich mit einer weitgehend immunisierten Bevölkerung konfrontiert. Einzelne Ansteckungen seien aber auch dann nicht zu vermeiden – ebenso wenig wie etwa größere Ausbrüche unter Seniorinnen und Senioren, die mehrheitlich mit Mitgliedern ihrer eigenen Altersgruppe im sozialen Kontakt stehen. Wenige Antworten gibt es freilich auch umgekehrt auf die Frage, was jene Staaten, die nun härtere Maßnahmen ergreifen, nach deren Ende tun wollen, um eine neue Infektionskette zu verhindern. (Manuel Escher, 14.3.2020)