Bild nicht mehr verfügbar.

Massenversorgung in einem Spital in Brescia.

Foto: Reuters/Scalzo

Am Samstag um 12 Uhr sind hunderttausende Italiener auf die Balkone ihrer Wohnungen getreten, um zu klatschen: Der langanhaltende Applaus galt dem medizinischen Personal im ganzen Land, das in diesen Tagen beinahe Übermenschliches leistet, um den immer zahlreicheren Covid-19-Patienten zu helfen und sie in den überlasteten Intensivstationen am Leben zu erhalten. Ärzte, Krankenschwestern, Pfleger, medizinisches Hilfspersonal, Medizinstudenten: Sie sind längst zu den neuen Helden Italiens geworden.

Vor allem in den lombardischen Provinzen Bergamo und Brescia, die inzwischen als die beiden wichtigsten Infektionsherde des Landes gelten, wird die Situation von Tag zu Tag dramatischer: Trotz der drastischen Quarantänemaßnahmen, die von der Regierung in den letzten Tagen verhängt worden sind, steigt die Zahl der Infizierten rasant. Aus der Provinz Bergamo werden täglich rund 300 neue Fälle gemeldet, in Brescia sind es etwa 250; etwa jeder Zehnte von ihnen benötigt Intensivpflege oder muss zumindest mit zusätzlichem Sauerstoff versorgt werden. In einer einzigen Woche beklagten die beiden Provinzen mehr als 400 Tote, in Bergamo bis zu 61 pro Tag. Nicht viel besser ist die Situation in der Region Venetien. "Wir befinden uns im Krieg", erklärte Regionalpräsident Luca Zaia mit Blick auf den Notstand in den Spitälern.

Entscheidung über Leben und Tod

Das medizinische Personal in vielen Krankenhäusern Norditaliens muss sich an eine neue Abkürzung gewöhnen: "NCR". Das steht für "non candidabili alla rianimazione" – und bedeutet so viel wie: kann nicht in der Reanimation aufgenommen werden. Der Mangel an Betten in den Intensivstationen hat dazu geführt, dass die Ärzte in bestimmten Fällen über Leben und Tod entscheiden müssen: "Wenn jemand zwischen 80 und 95 Jahre alt ist und große Atemprobleme hat, reservieren wir die wenigen noch vorhandenen Plätze für Patienten mit größeren Überlebenschancen. Das Gleiche gilt, wenn eine mit dem Virus infizierte Person eine Insuffizienz in drei oder mehr lebenswichtigen Organen aufweist", betont der Narkosearzt Christian Salaroli aus Bergamo. Diese Patienten kommen in der Regel direkt in die Palliativmedizin, also in die Abteilung der Sterbenden.

Das Personal in den Krankenhäusern, das wegen der stetig wachsenden Zahl von Covid-19-Patienten zum Teil 18-Stunden-Schichten leistet und kaum noch einen freien Tag beziehen kann, ist an der Grenze der physischen und psychischen Belastbarkeit angelangt. "Die Patienten, die uns mit angstvollen Augen ansehen, brechen mir das Herz", sagte die Mailänder Pflegefachfrau Maria Cristina Settembrese dem "Corriere della Sera". Sie berichtete von einem 48-jährigen Covid-19-Patienten, der gerade intubiert und dafür in Narkose versetzt werden sollte: "Er hat mir die Hand gegeben und gesagt: Schwöre mir, dass ich wieder aufwachen werde. Ich habe zwei Kinder." Sie habe den ganzen Tag an ihn denken müssen; ihre Schutzmaske sei nass gewesen von den Tränen.

5.200 Intensivplätze

Das Gesundheitssystem Italiens, das eigentlich zu den besten der Welt zählt, war zumindest bezüglich der Intensivmedizin nicht ausreichend auf die Corona-Krise vorbereitet: Für 60 Millionen Einwohner stehen im ganzen Land nur 5.200 Plätze in Intensivstationen zur Verfügung.

Noch viel schlimmer sieht es im Süden Italiens aus: Sollten im Mezzogiorno die Fallzahlen ebenfalls massiv ansteigen – was sie derzeit zum Glück noch nicht tun –, droht laut einhelliger Expertenmeinung innerhalb kurzer Zeit eine medizinische Katastrophe. In den am meisten betroffenen norditalienischen Regionen Lombardei, Venetien und Emilia-Romagna sind die Gesundheitsbehörden fieberhaft daran, die Zahl der verfügbaren Intensivbetten zu erhöhen. Meistens geschieht das durch die Reorganisation der Spitäler, wo ganze Abteilungen geräumt und zu Stationen der Intensivtherapie umfunktioniert werden.

Dennoch warnte der Gesundheitsbeauftragte der Lombardei angesichts der steigenden Zahl von Infektionen, dass die Plätze auf den Intensivstationen knapp werden. "Es gibt Tage, an denen nur noch sieben Plätze auf der Intensivstation zur Verfügung stehen", klagte Giulio Gallera.

Mangel an Personal und Material

Doch der Schließung bestehender Abteilungen zugunsten der Covid-19-Patienten sind Grenzen gesetzt: Die medizinische Betreuung der anderen Kranken muss ebenfalls gewährleistet werden. Deshalb wird inzwischen auch die Einrichtung von Feldlazaretten erwogen. So soll in Brescia auf dem Messegelände in den nächsten Tagen ein neues Lazarett für 200 Lungenpatienten der Corona-Krise entstehen. Dasselbe plant der Regionalpräsident der Lombardei, Attilio Fontana, auf dem Messegelände von Mailand. Es soll 500 Patienten Platz bieten. Doch der nationale Zivilschutz bremst: Es seien weder die erforderlichen Einrichtungen wie Beatmungsgeräte vorhanden, noch sei kurzfristig genügend medizinisches Personal rekrutierbar, das in diesen Feldspitälern eingesetzt werden könnte.

Kranke Ärzte

Außerdem stellt sich ein weiteres, enormes Problem, das sich in Kürze auch in anderen Ländern stellen dürfte: Zahlreiche Ärzte und Pfleger sind in Italien inzwischen selber infiziert und fallen aus; einige sind bereits gestorben. "Ich fühle mich wie ein Soldat, der seine Kameraden verliert", sagt Giuseppe Remuzzi, der bis vor zwei Jahren die medizinische Klinik Giovanni XXVIII in Bergamo geleitet hatte. Einer seiner ehemaligen Oberärzte befindet sich in kritischem Zustand auf der Pneumologie, zwei andere Kollegen sind intubiert. "Wenn ich mitansehen muss, wie die langjährigen Mitarbeiter und Freunde fallen, während der Feind vorrückt, dann ist mir zum Weinen zumute. Das ist fast nicht auszuhalten", betont Remuzzi. Insgesamt wurden allein in der Provinz Bergamo 77 Ärzte positiv auf das Coronavirus getestet.

Die Schaffung neuer Plätze in der Intensivmedizin ist ein Wettlauf gegen die Zeit: Laut einer in diesen Tagen in der britischen Wissenschaftszeitschrift "Lancet" veröffentlichten italienischen Studie wird die Zahl der Infizierten in Italien ihren Peak voraussichtlich in etwa drei bis vier Wochen erreichen; bis zu diesem Zeitpunkt seien mindestens 4.000 neue Betten auf Intensivstationen erforderlich. Die Regierung von Giuseppe Conte hat zwar schon vor einer Woche Kredite für die Neueinstellung von 20.000 Personen im Gesundheitsbereich verkündet, und in Kürze soll ein weiterer Kredit für die Beschaffung von 5.000 zusätzlichen Beatmungsgeräten bewilligt werden. Doch die bange Frage lautet: Können die 4.000 benötigten Plätze rechtzeitig zur Verfügung gestellt werden? Und vor allem: Werden sie ausreichen? (Dominik Straub aus Rom, 14.3.2020)