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Ein Mann fährt während des Waffenstillstands auf einen Markt in Idlib.

Foto: AP

Idlib – Russland und die Türkei wollen am Sonntag in Syriens letztem großen Rebellengebiet um die Stadt Idlib mit gemeinsamen Patrouillen entlang einer wichtigen Schnellstraße beginnen. Darauf hatten sich die beiden Länder vor mehr als einer Woche geeinigt. Die ebenfalls vereinbarte Waffenruhe für die umkämpfte Region hält seitdem weitestgehend.

Russland unterstützt im syrischen Bürgerkrieg die Regierung, die Türkei steht an der Seite der Rebellen. Am Sonntag jährt sich zugleich der Ausbruch des Konflikts zum neunten Mal.

Am 15. März 2011 waren in der Hauptstadt Damaskus erstmals Menschen zu Protesten gegen die Herrschaft von Präsident Baschar al-Assad auf die Straße gezogen. Die syrische Führung ging damals mit Gewalt gegen die Demonstranten vor. Daraus entwickelte sich ein Bürgerkrieg.

Waffenruhe und Sicherheitskorridor

Die Region um Idlib im Nordwesten Syriens ist mittlerweile das letzte große Rebellengebiet. Dominiert wird sie von der Al-Kaida-nahen Miliz Hayat Tahrir al-Sham (HTS). Dort kämpfen jedoch auch moderatere bewaffnete Gruppen. Syrische Regierungstruppen hatten im vergangenen Jahr mit Unterstützung der russischen Luftwaffe und ausländischen Iran-treuen Milizen eine Offensive auf Idlib begonnen. In den vergangenen Wochen konnten sie wichtige Gebiete erobern.

Die Vereinbarung zwischen Russland und der Türkei sieht neben einer Waffenruhe und gemeinsamen Patrouillen auch einen sogenannten Sicherheitskorridor entlang der Schnellstraße M4 vor, die durch das Rebellengebiet verläuft. Die beiden Schutzmächte wollen zudem ein "gemeinsames Koordinierungszentren" schaffen, um die Waffenruhe zu beobachten. Die Türkei hat in der Region eigene Truppen im Einsatz.

Mit dem Abkommen hatten Moskau und Ankara auf die Eskalation in der Region regiert. Luftangriffe, Kämpfe und die heranrückenden Truppen der Regierung haben fast eine Millionen Menschen vertrieben, die allermeisten von ihnen Frauen und Kinder. Hilfsorganisationen berichten von einer humanitären Katastrophe. Es fehlt an Lebensmitteln, Unterkünften, Heizmaterial und Gesundheitsversorgung.

Kein Vertrauen in die Waffenruhe

Die Syrien-Koordinatorin der Hilfsorganisation World Vision, Marianna von Zahn, sagte am Samstag im Deutschlandfunk, zwar seien die Luftangriffe zurückgegangen, doch hätten die Menschen Angst, in ihre Städte und Häuser zurückzukehren, weil sie der Waffenruhe nicht trauten. Im Winter seien viele Menschen in improvisierten Lagern erfroren. Das Gesundheitssystem sei zusammengebrochen. Die medizinische Versorgung werde hauptsächlich von Hilfsorganisationen geleistet. Es gebe zwar auch mobile Ambulanzen in schwer zugänglichen Gegenden, doch es herrsche Mangel an Medikamenten und Personal.

Der Uno-Vermittler für Syrien, Geir Pedersen, schrieb im zehnten Kriegsjahr auf Twitter, das Leiden des syrischen Volkes übersteige jede Vorstellungskraft. Es habe "Menschenrechtsverletzungen, Verbrechen, Zerstörungen und Elend monumentalen Ausmaßes" gegeben.

Nach Angaben des Uno-Kinderhilfswerks Unicef wurden seit Kriegsbeginn vor neun Jahren etwa 4,8 Millionen Kinder in Syrien geboren. Eine weitere Million sei in Flüchtlingslagern außerhalb Syriens auf die Welt gekommen. Seit die Kriegsopfer ab 2014 gezählt wurden, seien bis 2019 mindestens 9.000 Kinder durch den brutalen Krieg gestorben, erklärte Unicef-Chefin Henrietta Fore. Fast 5.000 Kinder, manche erst sieben Jahre alt, seien als Kindersoldaten rekrutiert und fast 1.000 Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen angegriffen worden.

Assad muss "rücksichtsloses Töten" beenden

In einer gemeinsamen Erklärung zum Syrien-Krieg haben Deutschland, Frankreich, die USA und Großbritannien am Sonntag die Führung in Damaskus aufgefordert, das "rücksichtslose Töten" im Land zu beenden. Die Assad-Regierung müsse den Willen des syrischen Volkes akzeptieren, das ein Leben in Frieden, ohne Bombardierungen, Chemiewaffen-Angriffe, willkürliche Verhaftungen sowie Folter und Hunger verdiene, hieß es in der gemeinsamen Erklärung der vier NATO-Verbündeten. Das "Assad-Regime" müsse für die von ihm begangenen Gräueltaten zur Verantwortung gezogen werden, hieß es in der Stellungnahme, die zum neunten Jahrestag des Kriegsbeginns im März 2011 veröffentlicht wurde.

Die militärische Lösung, die das syrische Regime mit Unterstützung Russlands und Irans anstrebe, werde keinen Frieden bringen. Die Führung in Damaskus müsse die UNO-Sicherheitsratsresolution 2254 befolgen, einschließlich einer landesweiten Waffenruhe, einer Verfassungsreform, der Freilassung von willkürlich inhaftierten Personen sowie freien und fairen Wahlen.

Wahl verschoben

Wegen der Coronavirus-Pandemie hat Damaskus zuletzt angekündigt, die für April geplante Parlamentswahl um gut fünf Wochen zu verschieben. Die Wahl werde nicht am 13. April, sondern erst am 20. Mai stattfinden, teilte das syrische Präsidialamt am Samstag in Online-Netzwerken mit. Es ist der dritte Urnengang seit dem Beginn des Syrien-Konflikts. Abgestimmt wird nur in den Teilen des Landes, die unter Kontrolle der Regierung stehen.

Bisher wurden aus Syrien keine Coronavirus-Fälle gemeldet. Syriens fünf Nachbarländer – der Irak, Israel, Jordanien, der Libanon und die Türkei – haben bereits alle Infektionsfälle verzeichnet. Hilfsorganisation warnen vor einer Ausbreitung des neuartigen Coronavirus in Syrien – vor allem in den umkämpften Gebieten im Nordwesten des Landes. In der Provinz Idlib, wo die medizinische Infrastruktur weitgehend zerstört ist und rund drei Millionen Flüchtlinge leben, ist das Risiko demnach besonders groß. (APA, 15.3.2020)