Ein Atompilz nach dem französischen Wasserstoffbombentest "Canopus" (2,6 Megatonnen TNT) am 24. August 1968 erhebt sich über dem Fangataufa-Atoll in Französisch-Polynesien.
Foto: APA/AFP

In Zeiten der Corona-Krise treten andere globale Katastrophenszenarien in der öffentlichen Aufmerksamkeit in den Hintergrund. Das bedeutet freilich nicht, dass sich die entsprechenden Gefahren einfach in Luft auflösen. So waren beispielsweise die beiden Atommächte Indien und Pakistan im vergangenen August einem bewaffneten Konflikt um die umstrittene Region Kaschmir so nahe wie davor schon lange nicht mehr. Indien drohte sogar indirekt mit einem nuklearen Erstschlag: Verteidigungsminister Rajnath Singh hatte angedeutet, dass sein Land in Zukunft seine Verpflichtung zu "No First Use", also das Bekenntnis dazu, Atomwaffen nur zu Verteidigungszwecken zu verwenden, überdenken werde.

Hinzu kommt, dass wichtige internationale Verträge zur Rüstungskontrolle von Atomwaffen zuletzt beendet oder untergraben wurden. Diese Entwicklung könnte in ein neues nukleares Wettrüsten, eine weitere Verbreitung von Atomwaffen und niedrigere Eintrittsschwellen für einen Atomkrieg münden, warnen Experten. Kein Wunder also, dass die vom "Bulletin of the Atomic Scientists" jedes Jahr neu justierte symbolische Weltuntergangsuhr, die Doomsday Clock, vor wenigen Wochen auf einen in seiner 73-jährigen Geschichte noch nie erreichten Wert vorgerückt ist: Sie steht aktuell bei 100 Sekunden vor Mitternacht.

Video: Die Weltuntergangsuhr rückt auf 100 Sekunden vor Mitternacht vor.
Bulletin of the Atomic Scientists

Ein Jahrzehnt der Abkühlung

Zwar würde ein regionaler Atomkonflikt zwischen Indien und Pakistan die Welt nicht direkt untergehen lassen, die Auswirkungen wären aber dennoch von globaler Tragweite. Eine internationale Forschergruppe hat nun in einer detaillierten Studie, die Klima-, Landwirtschafts- und Wirtschaftsmodelle kombiniert, die Folgen eines solchen nuklearen Katastrophenszenarios durchgerechnet. Das erschreckende Fazit: Ein lokaler atomarer Schlagabtausch, bei dem "nur" 100 Atomwaffen (also weniger als ein Prozent aller weltweit verfügbaren Nuklearwaffen) eingesetzt werden, würde der Welt ein Jahrzehnt der Abkühlung bescheren und dadurch zur schlimmsten weltweiten Nahrungsmittelverknappung in der modernen Geschichte führen.

Die Untersuchung, die von einem Team um Jonas Jägermeyr von der University of Chicago und dem Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung geleitet wurde, ist die erste, die vereinfachte Schätzungen des globalen Klimas und der landwirtschaftlichen Folgen eines Atomkonflikts aus der Zeit des Kalten Krieges verfeinert. Die Ergebnisse zeigen, dass ein plötzlicher Klimawandel schwere Ernteverluste verursachen, den weltweiten Handel praktisch zum erliegen und regionale Konflikte verschärfen würde – eine globale Krise wäre damit unausweichlich.

Grafik: Durchschnittliche Einbußen bei den Maiserträgen in den ersten fünf Jahren nach einem Atomkrieg zwischen Indien und Pakistan.
Grafik: Pnas/Jägermeyr et al.

Weit schädlicher als die Erderwärmung

"Plötzliche Abkühlung ist für das weltweite Pflanzenwachstum sogar schädlicher als die gleiche anthropogene Erwärmung", sagt Jägermeyr. "Sie betrifft hauptsächlich die nördlichen Getreideanbauregionen und geschieht im Grunde genommen über Nacht, verglichen mit dem allmählichen, langfristigen systemischen Klimawandel, an den sich die Gesellschaft deshalb leichter anpassen kann."

Die in der Fachzeitschrift "Pnas" veröffentlichte Studie zeigt, dass der regionale Einsatz von Atomwaffen und die dabei verursachten Brände zu einer Freisetzung von geschätzten fünf Millionen Tonnen Ruß in die Erdatmosphäre führt, der bis in die Stratosphäre gelangt. Die Modelle sagen voraus, dass die Abschwächung der Sonneneinstrahlung einen weltweiten Temperaturabfall von durchschnittlich 1,8 Grad Celsius und einen Rückgang der Niederschläge um acht Prozent bewirkt. Diese plötzlichen Veränderungen würden 10 bis 15 Jahre andauern, ehe sich das Weltklima wieder erholt. Diese Abkühlungsperiode würde jedoch den anthropogenen Klimawandel nur verzögern, aber nicht rückgängig machen.

Dramatische Ernteeinbußen

Für die Pflanzenwelt wäre dieses Klimaintermezzo katastrophal, so die Autoren. Letztlich würde die abrupte Abkühlung die Landwirtschaft in vielen Regionen der Erde weitgehend beeinträchtigen. Man müsste mit erheblichen Ernteeinbußen bei Mais, Weizen, Sojabohnen und Reis rechnen. Im einzelnen heißt das: Die Maiskalorienproduktion würde in den ersten fünf Jahren um 13 Prozent, Weizen um 11 Prozent, Reis um drei Prozent und Sojabohnen um 17 Prozent sinken.

Video: 25,4 Kilotonnen-Atomwaffentest der USA im Bikini-Atoll am 21. Mai 1958.
Lawrence Livermore National Laboratory

Die landwirtschaftlichen Folgen seien dabei in Regionen in hohen Breitengraden wie den Vereinigten Staaten, Europa, China und Russland am schwerwiegendsten. Dort würden niedrigere Temperaturen bedeuten, dass die Pflanzen nicht mehr ausreifen, bevor der erste Herbstfrost einsetzt. "Die Auswirkungen auf den Anbau der Grundnahrungsmittel wären die schlimmsten in der modernen Geschichte", so Jägermeyer. "Dramatischer noch als das Dust Bowl-Ereignis in den 1930er Jahren in den USA und Kanada und die Auswirkungen der größten Vulkanausbrüche."

Fünf Milliarden Menschen betroffen

Um zu simulieren, wie sich die landwirtschaftlichen Verluste auf die globale Ernährungssicherheit auswirken würden, ergänzten die Wissenschafter Wirtschafts- und Handelsmodelle: Zunächst würden Lebensmittelreserven demnach zwar einen Teil der Ernteausfälle kompensieren können. Längerfristig anhaltende Ernteverluste würden letztendlich aber die Lager leeren und den Export von Lebensmitteln in südliche Länder, die für die Ernährung der Bevölkerung auf den Handel angewiesen sind, verringern. Bis zum vierten Jahr nach dem Atomkonflikt würden 132 von 153 Ländern – eine Gesamtbevölkerung von fünf Milliarden Menschen – unter Nahrungsmittelknappheit von über 10 Prozent leiden, so die Studie.

Video: Aber was passiert, wenn wir alle derzeit existierenden Atomwaffen auf einen Haufen werfen und gleichzeitig zünden?
Dinge Erklärt – Kurzgesagt

Es könnte sogar noch schlimmer kommen: Das Szenario mit fünf Millionen Tonnen Ruß war auf Basis von mehr als zehn Jahre alten Daten entwickelt worden. Die Forscher glauben, dass heute bei einem Atomkrieg zwischen Indien und Pakistan mindestens 16 Millionen Tonnen Ruß freigesetzt werden würden, da die beiden Länder über Waffen mit größerer Zerstörungskraft verfügen und auch ihre potenziellen Ziele größer geworden sind. In Summe könnte das heißen, dass die Folgen eines solchen atomaren Konfliktes in Wahrheit bis zu dreimal heftiger ausfallen könnten.

"So schrecklich die unmittelbaren Auswirkungen des Einsatzes von Atomwaffen auch sein mögen, deutlich mehr Menschen würden außerhalb der Zielgebiete aufgrund von Hungersnöten sterben", sagt Koautor Alan Robock von der Rutgers University im US-Bundesstaat New Jersey. "Die Verbreitung von Atomwaffen geht heute ungebremst weiter – es gibt de facto ein nukleares Wettrüsten in Südasien", so der Forscher. "Unsere Untersuchung ist daher – leider – keine historische Betrachtung zum Kalten Krieg." (tberg, 16.3.2020)