Nach heftiger Kritik von Experten und Opposition hat die britische Regierung am Montag versucht, im Kampf gegen die Coronavirus-Epidemie verlorengegangene Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen. Zukünftig sollen Minister und Experten täglich und live im Fernsehen die Öffentlichkeit informieren. Von Dienstag an sollen die Briten nachvollziehen, was in Irland und auf dem Kontinent bereits üblich ist: keine Kneipenbesuche, keine Vergnügungsreisen, keine Massenveranstaltungen. Die Massnahmen würden mehrere Wochen, wenn nicht sogar Monate aufrechterhalten, betonte der oberste Gesundheitsbeamte des Landes, Chris Whitty. "Es handelt sich um einen Marathon, keinen Sprint."

Protestkundgebung gegen laxe Maßnahmen der Regierung Johnson vor Downing Street in London.
Foto: EPA/NEIL HALL

Großbritannien verzeichnete bis Montagnachmittag 1.543 Fälle von Corona-Infizierten. 35 Menschen sind an den Folgen einer Covid-19-Erkrankung gestorben. Wie anderswo in Europa haben sich die Briten panikartig mit Desinfektionsmitteln und Toilettenpapier eingedeckt, obwohl Supermärkte beteuern, es gebe keinerlei Versorgungsschwierigkeiten.

Fallende Kurse an der Börse

Restaurants und Reiseveranstalter klagen über Umsatzeinbußen von mehr als 50 Prozent. British Airways hat für April und Mai die Zahl seiner Flüge um drei Viertel reduziert, die Aktie der Holdinggesellschaft IAG fiel an der Londoner Börse um bis zu 24 Prozent. Der Aktienindex FTSE-100 verzeichnete am Montag einen Tiefststand wie seit sieben Jahren nicht mehr.

Wie die Konsumenten warteten auch die Londoner Kulturveranstalter nicht auf die Anweisungen der Regierung, die Premierminister Boris Johnson am Montagabend verkündete. Bis zum Wochenende hatte die Regierung noch business as usual propagiert; längst aber sagten immer mehr Londoner Theater und Konzertveranstalter ihre Events ab. Am weltberühmten Old Vic wird es beispielsweise keine Vorstellungen von Samuel Becketts "Endspiel" mehr geben. Hingegen machten Museen und Galerien unbeirrt weiter. "Unsere Häuser sind wie gewohnt geöffnet", hiess es etwa auf der Website der Tate-Museen.

Hohe Dunkelziffer

Angaben Whittys zufolge liegt die Dunkelziffer der Ansteckung mindestens beim Zehnfachen der bekannten Fälle. Zudem werden Briten mit Symptomen wie Fieber und trockenem Husten gar nicht getestet; sie sollen sich allein zu Hause auskurieren. Arztpraxen lehnen mittlerweile persönliche Besuche von Patienten ab; man dürfe sich aber telefonisch beraten lassen.

Die Zurückhaltung beim Testen möglicher Kranker stellt einen der Hauptgründe für die anschwellende Kritik von Immunologen wie Anthony Costello, einem früheren Spitzenbeamten der Weltgesundheitsorganisation WHO, dar. Nur durch konsequentes Testen und die rasche Isolierung Erkrankter sei es in Asien gelungen, die Epidemie aufzuhalten. "Warum haben wir damit aufgehört, Kontaktinfizierungen ausfindig zu machen?", schreibt der Professor am Londoner University College UCL im "Guardian".

"Menschenleben stehen auf dem Spiel"

Die Kritik kommt keineswegs nur von Wissenschaftern oder der Opposition. Die Regierung müsse "mit anonymen Briefings aufhören", glaubt der konservative Lord Gavin Barwell. Als Büroleiter der früheren Premierministerin Theresa May habe er selbst gern bevorzugten Journalisten etwas hinter vorgehaltener Hand zugeflüstert. "Jetzt aber stehen Menschenleben auf dem Spiel."

Die zukünftig täglichen Medienunterrichtungen stellen eine erste Reaktion der Regierung dar. Am Mittwoch will Gesundheitsminister Matthew Hancock dem Unterhaus ein Maßnahmenpaket vorlegen, mit dem die öffentliche Sicherheit gewährleistet bleiben soll.

Dringend ruft die Regierung zudem britische Maschinenbaufirmen zur Anfertigung von Beatmungsgeräten auf, an denen es dem staatlichen Gesundheitssystem NHS an allen Ecken und Enden fehlt. Ohnehin stehen zur Betreuung Schwerkranker in ganz England lediglich 4.048 Intensivbetten zur Verfügung, auf Großbritannien bezogen 6,6 Betten pro 100.000 Menschen. Der vergleichbare Wert für Deutschland beträgt 28 Betten für 100.000 Einwohner. (Sebastian Borger, aus London 16.3.2020)