Das Riesenrad im Wiener Wurstelprater dreht sich nicht mehr, auch in der Geisterbahn wird niemand erschreckt: In der Bundeshauptstadt findet man Vergnügen nur mehr in den eigenen vier Wänden.

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Ausnahmezustand ist dann, wenn die Normalität absurd anmutet. Zum Beispiel der Mann, der Flyer für einen Telefonanbieter am Wiener Gürtel austeilt, so wie an den meisten Tagen. An diesem Montag wirkt er fehl am Platz, Menschen mit Masken im Gesicht und Handschuhen an den Fingern machen einen Bogen um ihn. Nur einen Block weiter stehen Leute vor der Apotheke Schlange – als hätte man ein Lineal zwischen sie gelegt, halten sie einen Meter Abstand. Nur noch zwei auf einmal dürfen rein.

Wien schläft zwar nicht, aber es döst ein bisschen.
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Seit Montagmorgen ist Wien anders. Weitreichende Ausgangsbeschränkungen haben sein Tempo gedrosselt. Spielplätze sind mit Ketten versperrt, Kinos, Theater, Modegeschäfte, Spielplätze und der Wurstelprater samt Riesenrad bleiben zu. Der Praterstern, jener Bahnhofsvorplatz, über den an einem normalen Tag 150.000 Leute hetzen, ist quasi leer: Ein einzelner Mann sitzt am Boden, eine Krücke neben sich.

In der Bahnhofshalle tragen die Leute Einkaufstaschen und ziehen Trolleys hinter sich her – notwendige Besorgungen gehören zu den wenigen Ausnahmefällen, in denen man noch vor die Tür darf. Nach den Hamsterkäufen am Wochenende, bei denen Klopapier- und Nudelregale leergeräumt wurden, als wären bereits drei der apokalyptischen Reiter erschienen, beruhigte sich die Lage wieder. Die Supermärkte bleiben offen, die Lieferketten sind stabil, stellte die Regierung mehrmals klar.

Szenen von Stephansplatz & Co auch als Video.
DER STANDARD

Viel Platz in der U-Bahn

In der U-Bahn sind bei jeder Vierergruppe drei Plätze frei. Eine blecherne Stimme erinnert via Lautsprecher, dass man sich die Hände regelmäßig waschen soll. Manche Passagiere sind angespannt, haben den Schal weit über die Nase gezogen. Was darf man noch, was nicht? Ab welchem Punkt wird die notwendige Besorgung zum Luxus, und wann ist ein Job so wichtig, dass man trotz Ausnahmesituation zur Arbeit muss?

Der Job jenes jungen Mannes, der den Stephansdom bewacht, ist es. Er entscheidet, wer Tourist ist und wer zum Beten kommt. Trifft Letzteres zu, öffnet er das schwere Gittertor, hinter dem er steht. Vor der Kirche schießt ein junger Spanier, Alberto, ein Selfie. Schuldbewusst grinst er und sagt, er hätte ohnehin etwas im Büro abholen müssen, Dinge, die er im Homeoffice brauche. Da konnte er nicht widerstehen, die Stimmung einzufangen, "so leer werde ich ihn nie wieder sehen", sagt er und deutet auf den Steffl.

In den Stephansdom darf nur, wer beten will.
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Laut Landespolizei hielt sich die Bevölkerung an die Ausgangsbeschränkungen, es sei zu keinen "polizeirelevanten Vorfällen" gekommen. Der Sprecher des medizinischen Krisenstabs der Stadt Wien jedoch sagt zum STANDARD, die Wienerinnen und Wiener seien "nicht sehr diszipliniert" gewesen. Erstens seien viele Menschen bei Spitälern aufgeschlagen, um Angehörige zu besuchen – das ist jedoch seit dem Wochenende nicht mehr erlaubt –, zweitens sei noch nicht ganz durchgesickert, "dass man nun mit kleineren Wehwehchen kein Spital aufsuchen soll".

Außerdem habe es einen großen Andrang auf Ämter gegeben. Wiens Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) ruft daher in einem "dringlichen Appell" dazu auf, Behördenwege möglichst online zu erledigen. Bei der Sozialzentren der MA 40, so sagt ein Sprecher des Gesundheitsstadtrats Peter Hacker (SPÖ), hätte ein Großteil der Anträge, die am Montag gestellt wurden, auch schriftlich eingereicht werden können.

Aus der Kärntner Straße kommen zwei Polizisten auf den Platz. Seit Montag kann die Exekutive Anzeigen und Strafen verhängen, wenn die Ausgangssperre verletzt wird: Bis zu 2.180 Euro drohen, wenn man in größeren Gruppen unterwegs ist. Inoffiziell heißt es bei der Exekutive aber, dass auch am Dienstag nur informiert werden soll – erst ab Mittwoch müssen Unbelehrbare zahlen.

Stadtauswärts, die Kärntner Straße entlang, sind die meisten Rollläden unten, Schanigartenmöbel unter Plastikplanen versteckt. Noch unlängst diskutierten die Medien über die Warteschlangen vor Kaffeehäusern, am Montag hatten Institutionen wie das Café Hawelka oder der Bräunerhof gar nicht mehr offen, wie Zettel an den Türen mitteilten.

Podcast: Unser Leben in der Isolation.

Virus kills St. Patrick's Day

Auch die Pubs The Long Hall neben dem Straflandesgericht und Molly Darcy's in der Teinfaltstraße sind geschlossen – und das, obwohl in beiden für Dienstag Feiern zum St. Patrick's Day geplant waren. "Wir werden es nachholen", verspricht Long-Hall-Geschäftsführer Karl Burke, während er vor dem Lokal werkt.

Die Möglichkeit, erst um 15 Uhr vorerst final Sperrstunde zu machen, nutzen nur wenige. Einer ist Gerhard Müller, Wirt der Gaststätte Zum Holunderstrauch in der Schreyvoglgasse. Im Hollerbusch, wie das Lokal von Stammgästen genannt wird, haben sich am frühen Nachmittag ebendiese an der Bar versammelt, um noch einmal in Gesellschaft zu trinken.

Die Stimmung ist locker, mit leicht fatalistischem Unterton. Es ist fast wie Silvester, das Dräuen der Deadline wird von den Gästen in Viertelstundenschritten verkündet. "Aber nach Silvester geht es weiter", merkt eine blonde Frau bedauernd an. Wirt Müller weiß nicht, was kommt. "Ich habe mein Personal für Kurzarbeit angemeldet. In anderen Betrieben wurden alle gekündigt", sagt er. Doch auch er nimmt es mit Galgenhumor, ehe er für unbestimmte Zeit die Tür abschließt: "Es gibt Weihnachtsferien, Osterferien und jetzt halt Corona-Ferien." (Michael Möseneder, Gabriele Scherndl, 16.3.2020)