Touristen verlassen St. Anton am Arlberg auf dem Fußweg.

Foto: APA/EXPA/ERICH SPIESS

Innsbruck – Bregenz zog am Dienstag nach. Das Land sperrte die gesamte Vorarlberger Arlbergregion – die Gemeinden Lech, Klösterle, Warth und Schröcken – aufgrund der steigenden Zahl an Infizierten und der hohen Dunkelziffer vorerst ab. Der Schritt wurde seit der freitäglichen Quarantäneverordnung für das Paznaun und St. Anton am Arlberg immer lauter gefordert, auch weil in Lech der Skibetrieb bis Samstagabend munter weiterging – trotz zusammenhängender Skigebiete.

Auf Tiroler Seite waren nach den Maßnahmen am Freitag jedoch plötzlich hunderte Menschen gestrandet, ohne ein Dach über dem Kopf für die nächste Nacht – mit offensichtlich fatalen Folgen. Der öffentliche Verkehr war quasi lahmgelegt, Taxis waren nicht verfügbar, Busse entweder überfüllt oder sie fuhren leer am Ort vorbei.

Raufereien

Der 67-jährige Lukas F. war eigentlich in Lech auf Urlaub, musste aber nach St. Anton für die Abreise per Zug. Doch dieser hielt dort nicht mehr, und im Dorf machte sich langsam Chaos breit. Es soll zu Raufereien am Busbahnhof und etlichen Schreiduellen um Busplätze gekommen sein. F. schildert im STANDARD-Gespräch, wie er durch mutmaßliche Verfehlungen der Behörden überhaupt erst zu einem Verdachtsfall wurde.

Podcast: Wie das Coronavirus sich von Tirol aus in Europa verbreitete

Lokale Touristiker hätten ihn nach der Quarantänewarnung nicht mehr aufgenommen. Erst nachts konnte er sich per Bus und Taxi nach Innsbruck durchschlagen. Seit der Rückreise mit dem Zug nach Wien ist in F. freiwillig in häuslicher Quarantäne, da er sich stundenlang in St. Anton aufhalten musste.

Mit Behördenversagen ins Chaos

Es wird immer deutlicher, dass es vielen Touristinnen und Touristen ähnlich erging. Die sofortige Heimreise anzutreten war vielen nicht möglich, weil Flüge erst tags darauf oder noch später von den nahegelegenen Flughäfen abhoben. Eigentlich hätten ausländische Touristen laut Behörden noch bis Dienstagmitternacht im Quarantänegebiet auf die Rückreise warten können. Doch wieso strömten Hunderte aus dem Tal heraus, um sich in verschiedensten Hotels im ganzen Land zu verbreiten?

Seitens der Landesregierung wurde am Dienstag noch behauptet, dieses unverantwortliche Verhalten sei allein den Urlaubern zuzuschreiben. Doch das stimmt so nicht, wie Recherchen des STANDARD nun zeigen. Denn offensichtlich haben Hoteliers im Paznaun und St. Anton Gäste einfach so vor die Tür gesetzt, im Wissen, dass Rückflüge erst für Samstag oder Sonntag angesetzt waren. Das bestätigt auch die Geschäftsführerin des Tourismusverbandes Innsbruck, Karin Seiler-Lall.

Die Behörden sollen offenbar sogar eingegriffen und geholfen haben, die Touristen auf andere Hotels in Tirol zu verteilen. So wurde etwa ein Bus mit einer Gruppe Briten – 159 Personen, darunter Familien mit Kleinkindern – Freitagabend mit Polizeieskorte in ein Hotel nach Imst gebracht. Die Besitzer verlangten entgegen Berichten von Montag kein Geld von den Gästen, wie sie gegenüber dem STANDARD versichern. Man habe helfen wollen, weil diese Menschen immerhin Gäste in Tirol waren und man so nicht mit ihnen umgehen könne.

Kritik von Innsbrucker Hotelier

Wie viele solcher Umverteilungen mithilfe der Behörden es gegeben hat, ist noch unklar. Aber auch in Innsbruck kamen hunderte Urlauber aus Ischgl und St. Anton noch am Freitag unter. Ein Innsbrucker Hotelier berichtet dem STANDARD, dass sein Team nur zufällig die Brisanz der Situation erkannte, weil die ersten Anrufer, die sich nach einem Hotel erkundigten, aus freien Stücken erzählten, dass sie aus den Risikogebieten kämen. Als man ihnen aus Sicherheitsgründen daraufhin kein Zimmer anbieten konnte und auch sämtliche Onlinebuchungen stornierte, hätten sich diese an andere Hotels gewandt. Um Unterschlupf zu finden – und manch einer wohl auch, um seinen Urlaub zu verlängern –, hätten viele Urlauber fortan nicht mehr erwähnt, dass sie aus Ischgl oder St. Anton kämen und so Zimmer in Tirol ergattert.

Warum es die Behörden in Kauf genommen haben, dass zahlreiche, potenziell infizierte Gäste aus Quarantänegebieten sich in Tirol verteilen konnten, ist noch unklar. Der Innsbrucker Hotelier äußert scharfe Kritik, vor allem an der Kommunikation der Krise. Wenn sich die Tiroler Spitzenpolitik nun abputze und etwa Gesundheitslandesrat Bernhard Tilg (ÖVP) wiederholt betone, die Behörden hätten stets richtig gehandelt, sei das schlicht unverantwortlich, so der Hotelier. "Man hat das Virus sehenden Auges aus Tirol in die Welt getragen. Es wäre überfällig, sich das einzugestehen und sich dafür zu entschuldigen", fordert er sowie dass man auch an die Schicksale der Touristen zu denken habe, die wohl Verwandte unwissend ansteckten und gefährdeten.

Während die Tiroler SPÖ eine Abberufung Tilgs fordert und nach ausgestandener Krise eine parlamentarische Aufklärung will, sieht die FPÖ in ihm ein "Bauernopfer" zugunsten Platters. Auch die FPÖ plädiert, dass es zuerst die Krise zu managen gelte, dann aber müsse über Fehlentscheidungen diskutiert werden. (Steffen Arora, Laurin Lorenz, Fabian Sommavilla, 17.2.2020)