In Zeiten des Coronavirus finden EU-Gipfel nur noch per Videokonferenz statt. Das geht zwar unkompliziert und schneller. Aber wie sich Dienstagabend zeigte, ändert das nichts am traurigen Befund, dass die 27 Staats- und Regierungschefs der Union wie gelähmt erscheinen, zu gemeinschaftlichen Entscheidungen unfähig.

Schlimmer noch: Mehr denn je fallen sie in der Not in nationale Reflexe zurück, wie das wilde, unabgestimmte Schließen der Grenzen und die Ausrufung nationaler Ausnahmezustände zeigen. Es fehlt der Wille zum Wichtigsten, was eine Gemeinschaft ausmacht, sie zur Schicksalsgemeinschaft macht: Solidarität.

Koordination ist zu wenig. Es braucht gemeinschaftliches Vorgehen. Das ist kein aktuelles, kein spezielles Problem im Fall der Corona-Epidemie. Es hat Geschichte und System. Es ist nur vier Wochen her, da trafen sich die 27 Staats- und Regierungschefs der Union zuletzt physisch. Charles Michel, der Ratspräsident, hatte gerufen.

In Zeiten des Coronavirus finden EU-Gipfel nur noch per Videokonferenz statt.
Foto: imago/Xinhua/Zhang Cheng

Sein einziges Ziel damals: Die "Chefrunde" sollte rasch einen Kompromiss zum langfristigen EU-Haushalt für die Jahre 2021 bis 2027 finden. Davon hängt ab, ob gemeinschaftliche Politik gut funktioniert. Das reicht vom Schutz der EU-Außengrenzen über den Katastrophenfonds bis hin zum Fall, dass Euro- und EU-Staaten ins Trudeln geraten und man sie durch gemeinsame "Feuerkraft" mit Macht und Milliardenhilfen rettet.

Rettungsmechanismen und Hilfsfonds

Nationalstaaten allein können Megakrisen nicht mehr meistern. Zwei Beispiele: Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in den USA reagierten die Staaten sofort. Die Nato rief den Bündnisbeistandsfall aus. Solidarität war auch in der EU selbstverständlich.

Anders gelagert, aber nicht unähnlich war es nach der Finanz-, Wirtschafts- und Budgetkrise 2008, die beinahe die Eurozone zum Scheitern brachte. Mühsam, aber doch quälten sich die EU-Staaten aus dem Sumpf, schufen Rettungsmechanismen und riesige Hilfsfonds.

Mit all diesen Erfahrungen könnte man heute annehmen, dass die EU-Regierungschefs ihre Lektionen gelernt haben. Das schien nach dem EU-Austritt Großbritanniens auch angesagt. In Italien eskalierte die Corona-Epidemie. Aber was geschah beim EU-Budgetgipfel? Jeder beharrte auf nationalen Egoismen. Obwohl man für einen Kompromiss nur rund 40 bis 50 Milliarden Euro auseinanderlag, fuhren "die Chefs" ohne Beschluss nach Hause.

Vier Wochen später spricht Emmanuel Macron von Krieg. Die Regierungen der EU-Staaten kündigen an, dass sie auf nationaler Ebene hunderte und aberhunderte Milliarden Euro zur Überwindung der Corona-Krise mobilisieren wollen. An den Binnengrenzen herrscht Chaos.

Wie schon bei früheren Krisen ist aber jetzt schon klar: Bald wird die Wirtschaftslage die Regierungschefs zwingen, von national wieder auf europäisch umzuschalten. Sie müssen den Binnenmarkt erhalten, weil Europa sonst abstürzt. Man hätte es vernünftiger haben können. (Thomas Mayer, 18.3.2020)