Gerüche die stärksten Auslösereize für unwillkürliche Erinnerungen.

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Gestern Abend in der Pizzeria. Mein Freund, der stilsichere Fotograf, und ich waren uns einig: So ein Kopfgeruch – im Kino, in der Straßenbahn, auf dem Biomarkt –, das ist die reinste seelische Folter. Ein Fall für die Shampoo-Polizei. Mit einer einzigen Ausnahme: die ungewaschenen Haare unserer ersten Jugendlieben.

"Sie war die Schwester meines besten Freundes", erinnerte sich der Fotograf. "Ihre Locken dufteten nach Turnsaal, Weichspüler und Bazooka-Kaugummi." In meinem Fall: "Der geheimnisvolle Typ aus der 7b. Seine kinnlangen Strähnen, eine Mischung aus Motorradjacke, Muratti und Patschuli." – Der Fotograf blickte vielsagend aus dem Fenster: "Im Grunde sucht man immer nach diesem Moment."

Erotische Fixierungen?

Vielleicht. Auf jeden Fall bedeutsame Erinnerungsblüten. Hochemotionale Geruchskompositionen, die für immer in unserem Gehirn abgespeichert wurden, um genau zu sein: im limbischen System.

Der Geruchssinn liegt im entwicklungsgeschichtlich ältesten Teil des Gehirns. Deshalb sind Gerüche die stärksten Auslösereize für unwillkürliche Erinnerungen. Die Nase hat außerdem den kürzesten Abstand zu jenem Bereich, in dem sensorische Informationen analysiert werden.

Passieren kann diese Rückführung beim Zahnarzt, in der Aida, auf einer grünen Wiese, also überall: Duftpartikel, die eine Melodie aus längst vergangenen Zeiten auf den Plattenteller schmeißen.

Das Unsichtbare, das unsere Nervenzellen in maximale Erregung versetzt. Man weiß nicht, wie und warum. Ist einfach nur gebannt. Womit wir auch schon beim Fachbegriff dieser plötzlichen Zeitreise sind: dem Proust-Effekt.

Frühstück mit Folgen

Ein Sonntagmorgen, Anfang des 20. Jahrhunderts, an einem kalten Wintertag in Frankreich. Ein junger Mann beißt in eine Madeleine (kleiner Sandkuchen in Form einer Jakobsmuschel), die er gerade in seinen Tee getunkt hat.

"In der Sekunde nun, da dieser mit den Gebäckkrümeln gemischte Schluck Tee meinen Gaumen berührte, zuckte ich zusammen und war wie gebannt durch etwas Ungewöhnliches, das sich in mir vollzog." – Durch den Duft des Gebäcks wird der Ich-Erzähler in das Dorf seiner Kindheit zurückversetzt. All die Jahre, Combray, die Tanten, der ungeliebte Herr Swann, auf einmal ist es wieder lebendig, ganz nah.

Die Frühstücksszene steht am Beginn von Marcel Prousts 5200-Seiten-Werk Auf der Suche nach der verlorenen Zeit – und mit ihr hat der französische Schriftsteller das wahrscheinlich folgenschwerste Erinnerungserlebnis in der Literaturgeschichte geschrieben.

Seither nennt die Wissenschaft urplötzliche, durch Gerüche provozierte Reisen in die Vergangenheit den "Proust-Effekt" (manchmal auch das "Madeleine-Phänomen").

Fetter Elektriker

Die Parfumindustrie hat sich seit Jahrhunderten auf die Reproduktion großer Gefühle spezialisiert. Inzwischen zeigt sich ihr Warenangebot, auch dank neuer Chemie, auf fast erschreckende Weise verfeinert. Weil Gerüche heute in Laboren exakt nachgebaut werden können, gibt es Flakons, deren Inhalt wie benutzte Dollarnoten in die Nase strömt, wie eine mittelreife südtürkische Feige oder ein Autoreifen in der Aprilsonne – falls das irgendjemand braucht.

Den großen Künstlern des Metiers geht es allerdings nicht um flache Akkorde, sondern um Erzählungen: Fat Electrician ("fetter Elektriker") nennt sich jene freche Mischung aus Kastanie, Vetivier und Bisabol-Myrrhe, die zu den erfolgreichsten Kreationen von Etat Libre d’Orange zählt.

Etienne Swart, Chef der coolen und modernen Marke, hat dabei an einen "sexy Naturburschen aus Texas gedacht, der es auf dem harten Asphalt der Stadt nicht geschafft hat und nun als fetter Elektriker arbeitet".

Auch Jean-Claude Ellena, langjähriger Chefparfumeur von Hermès, weiß: "Ein Duft kann hart, weich, trocken, flach, schneidend, seidig, pikant, rau, zerbrechlich oder ölig sein ... Erstaunen erzeuge ich allerdings nicht dadurch, dass ich den Geruch von Tee, Mehl oder Früchten unverändert nachbilde.

Man muss die einzelnen Stoffe zu Zeichen umdeuten, ihnen eine neue Bedeutung verleihen." – In der Welt von Ellena steht der Duft des grünen Tees für Japan, das Mehl für die Haut, die Mango für Ägypten. Später, im Geschäft, entscheidet sich der Konsument für jene Kopf-, Herz- und Basisnoten, die seinen sentimentalen Speicherplatz im Gehirn am stärksten ansprechen.

Geruchsillusionen

Man hat die großen Klassiker alle noch in Erinnerung. Aber was erzählen sie einem heute? Der Fotograf und ich wollen den Proust-Effekt an uns selbst erfahren. Wir begeben uns auf "la recherche du temps perdu" – in unserem Fall nicht durch den Genuss von Madeleines, sondern durch einen Streifzug quer durch die Verkaufshalle einer großen Parfümerie.

Hier stehen sie, die Aqua-Düfte von Guerlain – und was einem im Sprühnebel entgegenströmt, das ist für mich wie damals, dieses Frühstück in einem spanischen Luxushotel, mit rosa Grapefruit, Champagner und buttrigen Croissants. Der Fotograf erkennt in Shalimar die hysterischen Mütter seiner Schulfreunde, Uno-City-Büros und 70ies-Safari-Shops.

Black Pepper von Comme des Garçons aufgesprüht, und ich spaziere um Mitternacht über nassen Asphalt in Paris. Joy von Dior lässt die gemeine Freundin aus der Ballettstunde auferstehen. Der Flakon von Montblanc versetzt den Fotografen zurück in eine New Yorker Papierhandlung. Y von YSL Homme in meiner Nase, schon steht er da, der eingebildete Türsteher aus jener Zeit, in der die Clubs noch Disco hießen.

Der Fotograf hat sich inzwischen This is Love von Zadig & Voltaire auf einen Teststreifen gesprüht. Und schon rollt die geballte Insta-Girlie-Power über ihn, mit Trainingshosen und kilometerlangen Wimpern.

Eau de Citron Noir von Hermès erinnert uns an unsere Väter, die ihre Schubert-Sinfonien noch auf Schallplatten hörten. Und mit Sunday Cologne von Byredo werden die Sonntage endlich wieder so, wie sie einmal waren: heimliches Küssen auf weißer Leinenbettwäsche, während draußen im Garten alles leuchtet und blüht.

Reisegepäck

Ja, Gefühle sind groß – und in den meisten Fällen auf nichts begründet als Assoziationsketten, Erinnerung und Fantasie. Weil eben alles mit allem zusammenhängt, nicht nur in der Quantenphysik. "Die Teile der Welt stehen alle in solcher Beziehung und solcher Verkettung miteinander, dass ich es für unmöglich halte, den einen oder den anderen und ohne das Ganze zu erkennen", notierte der französische Philosoph der Renaissance, Blaise Pascal, in seinen Gedanken.

Es geht also nicht um Düfte, sondern um Zustände. Das betont auch der Chemiker und frühere Parfumkritiker der New York Times, Luca Turin. Cuir de Russie von Chanel ist für ihn einer der besten Lederdüfte überhaupt: "Er wird mich immer an das Wageninnere des 1954er Bentley meines Stiefvaters erinnern, in dem ich als kleiner Bub allein auf dem Rücksitz saß und auf dem ausklappbaren Mahagoni-Tischchen spielen durfte."

Ein Koffer voller Erinnerungen. So muss Parfum. Weil sinnliches Vergnügen eine Entscheidung des Geistes ist. "Wie Menschen einen Geruch bewerten, hängt sehr davon ab, ob angenehme oder unangenehme Situationen damit verknüpft sind", schreibt der österreichische Psychologe und Autor Werner Stangl. "Es geht um erlernte Assoziationen, weshalb auch generell unangenehme Gerüche wie Schweiß, Chlor, verbranntes Grillgut oder durchdrehende Autoreifen positive Gefühle auslösen können."

Wie gesagt, der Kopf eines ausgewachsenen Menschen sollte nach nichts riechen, außer nach einem guten Duft oder Shampoo. Und das große Ganze beschreibt keiner besser als Marcel Proust: "Eine Stunde ist nicht nur eine Stunde, sondern ein mit Düften, Klängen und Plänen angefülltes Gefäß." (Ela Angerer, RONDO exklusiv, 16.7.2020)