STANDARD: Angesichts der europaweit geltenden strikten Maßnahmen zur Eindämmung des Virus Sars-CoV-2 scheint endlich Einigkeit über die Gefährlichkeit der Erkrankung zu bestehen. Das war nicht immer so. Woran lag das?

Schwarz: Das Problem ist: Wir wissen einfach viel zu wenig über das Virus. Und das führt zu Verunsicherung. Die Reproduktionsrate scheint viel größer zu sein als bei der Influenza. Aber wie tödlich das Virus tatsächlich ist, lässt sich noch nicht genau sagen. Auch ist noch nicht klar: Bleibt es bei dieser ersten Welle, oder wird es eine zweite geben? Für mich lässt sich daher die tatsächliche Gefährlichkeit noch nicht abschätzen.

Rauner: Die Reproduktionsraten von Corona dürften sogar über jenen der Spanischen Grippe liegen. Bei der Tödlichkeit zeichnet sich ab, dass Sars-CoV-2 etwa zehnmal tödlicher ist als das Influenza-Virus. Es finden 30 bis 40 Prozent der Ansteckungen zu Hause statt, weil Familienmitglieder die Influenza von außerhalb mitbringen. Das dürfte bei Corona ähnlich sein. Unsere Modellrechnungen zeigen außerdem, dass wir in Österreich mit der Ansteckungsrate neun Tage hinter Italien liegen. Die Berechnungen machen auch klar, dass Infektionen mit dem Virus in Italien viel häufiger tödlich verlaufen als in China. Es ist jetzt daher wichtig, dass alle Menschen zu Hause bleiben, um eine Überlastung des Gesundheitssystems wie in Italien zu verhindern.

Bernhard Schwarz ist Professor am Zentrum für Public Health der Med-Uni Wien. Marion Rauner ist Professorin an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften der Universität Wien.
Foto: Regine Hendrich

STANDARD: Halten Sie die zuletzt von der österreichischen Bundesregierung beschlossenen Maßnahmen also für gerechtfertigt?

Schwarz: Ich halte die Maßnahmen für sehr wichtig und gut. Für mich gibt es aber eine Diskrepanz, wenn man Corona mit anderen Gesundheitsthemen vergleicht, die oft eher unter den Tisch fallen. Damit will ich gar nicht sagen, dass die enorme Aufmerksamkeit für Corona übertrieben ist. Aber die Relationen sind für mich ein bisschen schief. Ich fände es wichtig, dass wir das hohe Bewusstsein, das wir jetzt geschaffen haben, langfristig erhalten. Dazu gehört, dass sich jeder Einzelne seiner Verantwortung für die Allgemeinheit bewusst ist und entsprechende Handlungen setzt, wie an Impfprogrammen teilnehmen, etwa gegen Masern, Mumps, Röteln oder HPV. Bei Letzterem könnten wir mit einer Impfung Gebärmutterhalskrebs ausrotten – das ist eine Chance, die wir wahrnehmen müssen. Wichtig wäre also, die Welle der Aufmerksamkeit zu nutzen, um solche Gesundheitsthemen zu diskutieren. Bei allem Schaden, der nun entsteht, könnte das Coronavirus langfristig die Chance bieten, gesundheitlich etwas vorwärtszubringen.

Rauner: Ich denke auch an die betriebliche Gesundheitsvorsorge. Sie sollte verbessert werden. Klimaanlagen in Großraumbüros haben meist keine Virenfilter. Oder denken Sie an Flugzeuge. Hier sollte es strikte Regelungen geben, ähnlich den Abgasgrenzwerten.

STANDARD: Welche wirtschaftlichen Folgen erwarten Sie durch die Corona-Krise?

Rauner: Die wirtschaftlichen Folgen spürt man jetzt schon. Man muss jetzt sehr vorsichtig agieren, um die Wirtschaft nicht abzuwürgen. Wir alle haben von Global Sourcing (internationale Beschaffungsaktivitäten, Anm.) und dem Just-in-time-System (bedarfssynchrone Produktion, bei der Stückzahlen je nach Aufträgen erzeugt werden, Anm.) sehr profitiert. Deshalb werden in den kommenden Monaten viele Bestandteile von Produkten fehlen. Sie werden zu einem großen Teil in China hergestellt. Man sieht schon jetzt, dass Werkstoffe fehlen und viele von den Klein- und Mittelbetrieben in Österreich nur wenig Lagerbestände haben. Auch in der Pharmabranche sind Engpässe zu erwarten, da auch viele Wirkstoffe in China hergestellt und viele Medikamente in Indien produziert werden. Man merkt also jetzt: Wir haben uns wirtschaftlich einem sehr fragilen Geflecht ausgesetzt. Damit sind große Risiken verbunden. Was wir aus dieser Krise lernen können? Wir müssen schauen, wie wir wieder autarker werden. Gerade bei der Medikamentenproduktion wäre das sehr wichtig.

STANDARD: Ist es damit aus medizinischer Sicht getan?

Schwarz: Wir müssen schon auch sehen, welche Gesundheitsthemen wir noch haben. Die Verharmlosung von Rauchen war schon gewaltig. Auch Übergewicht und Diabetes sind zentrale, zu wenig beachtete Themen. Auch bei den Impfungen gibt es Nachholbedarf. Dabei haben sich teilweise abstruseste Verschwörungstheorien unter Eltern durchgesetzt. Es ist auch nicht okay, dass sich viele Menschen, nachdem sie auf dem Klo waren, nicht die Hände waschen. Ihnen auf Dauer diese Bequemlichkeit zu nehmen, wäre ein wichtiger Punkt. Das hat ja auch driftige Gründe: Im Sommer gibt es Jahr für Jahr Ausfälle wegen Darminfekten, da geht viel an Produktivität verloren.

STANDARD: Glauben Sie, dass die Handhygiene nun besser funktioniert?

Schwarz: Die Dramatik der Situation bringt die Menschen hoffentlich dazu. Der Hinweis auf Handhygiene allein ist nicht das, was die Leute im Alltag besonders interessiert.

Rauner: Ich habe da eine gewisse Sorglosigkeit beobachtet. Da ist jeder Einzelne gefordert, sich zu ändern, sich selbst bei der Nase zu nehmen.

STANDARD: Wie haben Sie eigentlich Ihre Verhaltensweisen in den letzten Tagen geändert?

Schwarz: Bussi-Bussi-Begrüßungen mache ich nicht mehr, Händeschütteln auch. Öffentliche Verkehrsmittel meide ich momentan. Ich wasche mir noch öfter als vorher die Hände. Ich fühle mich selbst aber nicht gefährdet, es geht eher um die Frage, ob ich andere gefährde. Im Kontakt mit älteren Menschen, da halte ich zwei Meter Abstand. Bei mir ist jetzt das Thema, nicht Überträger zu werden!

Rauner: Ich habe meinen Kollegen Bescheid gegeben, dass sie eine Krisenvorkehrung für zwei Wochen treffen sollten. Wenn man in Quarantäne gestellt wird, dass man diesen Vorrat zu Hause hat. Ich habe ihnen auch die allgemeinen Hygienemaßnahmen kommuniziert und besonders Hinweise für den Umgang mit älteren Menschen gegeben.

Forscher arbeiten weltweit an einer Impfung gegen eine Infektion mit dem Corona-Virus.
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STANDARD: Wie sehen Sie die Zeit nach der Krise?

Schwarz: Ich bin gespannt, wie man damit umgeht, wenn es einmal eine Impfung gibt. Werden zunächst alle Alten und Kranken geimpft? Wird es eine Impfpflicht geben, oder wird das optional bleiben? Ich bin mir angesichts dieser Folgen jetzt nicht mehr sicher.

Rauner: Impfpflicht hat Vor- und Nachteile. In einer freien Gesellschaft sollte aber jeder auch die Möglichkeit zum Opt-out haben. (Peter Illetschko, Tanja Traxler, 20.3.2020)