"In Zeiten, in denen wir Führungskraft bräuchten, haben wir Boris Johnson." Der britische Künstler Steve McQueen scannt die Veränderungen in der Gesellschaft. Der 1969 geborene britische Künstler, Fotograf und Filmregisseur erhielt 1999 den Turner Prize, 2014 einen Oscar.

Foto: Tate Photography Oli Cowling

Größere Zusammenhänge nimmt Steve McQueen mitunter auch in kompromisslosen Nahaufnahmen ins Visier: Er hält die Kamera auf einen kahlrasierten Hinterkopf, umkreist die Freiheitsstatue auf der Suche nach Werten, filmt den Alltag von Grubenarbeitern. Identität, Gewalt, Rassismus, Schönheit, Tod sind wiederkehrende Themen in den Filmen und Videoinstallationen des britischen Künstlers. 1999 erhielt McQueen den Turner Prize, seither hat er auch eine höchst erfolgreiche Zweitkarriere als Filmemacher (12 Years A Slave) hingelegt.

McQueen wurde 1969 als Sohn karibischer Einwanderer in London geboren, dort eröffnete die Tate Modern vor wenigen Wochen eine Schau mit Werken aus den letzten zwanzig Jahren. Sie ist inzwischen für das Publikum geschlossen. Auch die Kunstbiennale Innsbruck International, die McQueens epische Auseinandersetzung mit der politischen Verfolgung des Bürgerrechtlers Paul Robeson präsentiert hatte, wurde angesichts der Lage vorzeitig beendet. Das Virus ist das Thema dieser Tage, es führe uns den Zustand der Welt vor Augen, sagt McQueen im Interview.

STANDARD: Die britische Regierung reagiert zögerlich und mit sprunghaften Kurswechseln auf die Corona-Krise. Haben Sie den Eindruck, Boris Johnson ist Herr der Lage?

McQueen: In Zeiten, in denen wir Führungskraft bräuchten, haben wir Boris Johnson. Er tut so, als sei er Winston Churchill. Aber er ist weit davon entfernt. Ich kann nur hoffen, dass er an der Aufgabe wächst.

STANDARD: Angesichts von Corona wird derzeit so eindringlich wie schon lange nicht mehr der gesellschaftliche Zusammenhalt beschworen. Braucht die Welt eine Pandemie, um zur Solidarität zurückzufinden?

McQueen: Das kann ich nicht beurteilen, aber Fakt ist, dass uns Misstrauen an den jetzigen Punkt geführt hat. Das Ganze hat in China begonnen, vielleicht hätte die Ausbreitung verhindert werden können, wir wissen nicht, welche Informationen China mit dem Rest der Welt teilt. Und das zeigt umso mehr, wie wichtig eine offene Gesellschaft ist und wie notwendig es ist, dass wir uns für sie einsetzen. Wenn wir das nicht begreifen, schießen wir uns ins eigene Knie.

STANDARD: Ihre Arbeit "End Credits" ist dem afroamerikanischen Sänger, Schauspieler und Bürgerrechtsaktivisten Paul Robeson gewidmet. Es geht darin um staatliche Überwachung und politische Verfolgung während der McCarthy-Ära in den USA.

McQueen: Es geht um Überwachung, aber nicht nur aus historischer Sicht. Für mich hat diese Arbeit sehr viel mit der Gegenwart zu tun, in der unter dem Vorwand der Sicherheit unsere Grundrechte beschnitten, unsere Handys und Computer ausspioniert werden. Paul Robeson ist nur ein Beispiel dafür, wie politisch motivierte Diskriminierung funktioniert, wie ein Staat an einem Menschen ein Exempel statuiert. Ich war ungefähr 13 Jahre alt, als unser Nachbar mir eine Broschüre gezeigt hat, in der es um Robesons Verbindung mit den walisischen Minenarbeitern ging. Er hat in den 1930ern einige Jahre in England gelebt und sich hier mit den Minenarbeitern und ihrem Kampf für bessere Arbeits- und Lohnbedingungen solidarisiert. Diese Geschichte hat mich offensichtlich nicht mehr losgelassen.

STANDARD: Es gehe in der Kunst um Wahrheit, sagen Sie. Das ist in Zeiten von alternativen Fakten ein umkämpfter Begriff. Welche Art von Wahrheit kann denn Kunst bieten?

McQueen: Kunst kann Menschen helfen, sich Gedanken darüber zu machen, was für sie selbst die adäquate Wahrheit ist. Es geht also darum, offen für Möglichkeiten zu sein, und eben nicht um Einschränkungen. Oder lassen Sie es mich mit Bruce Nauman sagen: "Der wahre Künstler hilft der Welt, indem er mystische Wahrheiten enthüllt."

STANDARD: Haben Sie selbst gesellschaftlichen Schranken erlebt?

McQueen: Absolut, ja. In einem Schulsystem, das auf Vorurteilen, Rassismus und Privilegiendenken aufgebaut ist und in dem wir nach diesen Kriterien separiert wurden.

STANDARD: Die Brexit-Kampagne surfte auf der Nationalismus-Welle. Hat sie Rassismus in der britischen Gesellschaft befeuert?

McQueen: Der Nationalismus richtete sich vor allem gegen Zuwanderer. Aber das ist keine Spezialität Großbritanniens, schauen Sie sich Ihr Land an. Jene, die diesen Nationalismus schüren, wollen Sündenböcke, und dazu werden dann Menschen gemacht, die von außen hereinkommen oder zu einer schwächeren Community gehören.

STANDARD: Zurück zu Boris Johnson, der auch durch Attacken gegen die BBC aufgefallen ist, für die Sie eine Serie über die westindische Community im London der 1960er- bis 1980er-Jahre produziert haben. Ist die Pressefreiheit in Großbritannien in Gefahr?

McQueen: Die Pressefreiheit ist überall in Gefahr, und ich verstehe nicht, warum die Leute das nicht sehr viel ernster nehmen. Denn hier schließt sich ja auch der Kreis zur Wahrheit, Offenheit und Transparenz, die wir so dringend brauchen. Es ist auch wichtig, diese Fragen aus globaler, nicht lokaler Perspektive zu betrachten. Diesbezüglich hat Okwui Enwezor unglaublich Wertvolles für die Kunstwelt und für die Art geleistet, wie wir auf die Welt schauen. Er ist 2019 gestorben, ein riesiger Verlust. (Ivona Jelcic, 20.3.2020)