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Intensive Lektüre kann als Widerstand gegen die überaufgeregte Nachrichtensituation verstanden werden. Literatur fordert Lesende heraus ...

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Der erzwungene Rückzug in Zeiten des Virus eröffnet dem Lesen eine Chance. Intensive Lektüre kann als Widerstand gegen die überaufgeregte Nachrichtensituation verstanden werden.

Literatur fordert Lesende heraus, ihre eigenen Welten mit den Welten der Bücher zu verbinden und Schlüsse daraus zu ziehen. Das braucht Muße. Hingabe. Den Willen, die vom Schreibenden vorgestellten Welten nachzuvollziehen. Gerade in einer Zeit ständiger Überforderung kann das Eintauchen in einen literarischen Text einen Freiraum bieten.

Als Kind gelang es mir, im Lesen für die Dauer eines Buches alles um mich herum zu vergessen. Als die Eltern merkten, dass ich mich lieber in der geschriebenen Welt aufhielt, durfte ich nur mehr zu festgelegten Zeiten lesen.

Als Jugendliche hatte ich mir dann mit viel Streit erkämpft, dass ich zu Hause bleiben durfte, während die Familie an Ferientagen Berge bestieg. Stundenlang lungerte ich auf dem Sofa und las heimlich Erwachsenenbücher.

Manchmal stelle ich mir vor, wie es für meine Mutter gewesen sein muss, diesen oder jenen Roman zu lesen, an den ich mich noch erinnere. Wie sie das Gelesene mit der sie umgebenden Welt verband. Ich frage mich, ob sie mit meinem Vater darüber gesprochen hat. Oder ob jeder für sich behielt, was er da las. Ob ihnen die gleichen Szenen in Erinnerung blieben.

Immerhin lasen meine Eltern

Immerhin lasen meine Eltern. Ganz im Gegensatz zu den mich umgebenden Familien, für die Bücher in etwa so nutzlos waren wie – ja, es fällt mir gar nichts ein, denn sogar Ziersträucher im Garten waren wichtiger als Bücher. Lesen war eine andere Form von Nichtarbeiten, von Nichtsnutz sein. So wurde ich genannt.

Nachdem die erste Verwunderung über das Mädchen, das in kurzer Zeit so viel lesen konnte, verflogen war, sollte ich mir die Flausen schnell abgewöhnen. Das Staunen verwandelte sich in Abschätzigkeit, denn die mit Lesen verlorene Zeit hätte besser genützt werden sollen, um Socken zu stopfen, Schals zu häkeln, Marmelade einzukochen, das Frausein zu erlernen und auszuüben, eine Existenz, die an Lektüre nur Strickanleitungen und Kochbücher erlaubte. Alles darüber hinaus war Verschwendung.

Und weil meine Mutter mein Lesen nicht abstellen konnte, wurde die Verachtung auf sie übertragen, da sie es nicht schaffte, ihre Tochter zur Nutzfrau zu erziehen. Worauf sie mir wiederum verbot zu lesen. Worauf ich mir Bücher von Freundinnen borgte, sie während der Schulstunden und Zugfahrten zur Schule las.

Die öffentliche Bücherei in Wels konnte sie mir nicht verbieten. Dort las ich mich durch die Weltliteratur. Die Bibliothek war mein Freiraum. Jedes Buch eine weitere Tür zu bislang unbekannten Möglichkeiten.

Die Enkelin des Heimatdichters

Mein Großvater war in der Gegend bekannt, weil er lustige Witze erzählte, die er manchmal in Versform aufschrieb. In Mundart aus dem Hausruckviertel und furchtbar ungelenk, wie mir heute vorkommt. Damals waren wir Kinder stolz auf ihn. Ganze Wirtshaussäle brachte er zum Lachen. Der macht sich zum Kasperl, schimpfte meine Oma.

Und Opa erfüllte sich einen Traum, indem er seine Werke in einem Buch versammelte, das er auf eigene Kosten drucken ließ. Titel: He du, los af! In der Chronik unseres Dorfes bin ich mit einem Kapitel neben dem über Opa vertreten, mit dem Zusatz: Sie ist die Enkelin des Heimatdichters Johann Scholl.

In der Schule bemerkte ich, dass eine Lehrerin für ein Leseheftchen Gedichte verfasst hatte. Motiviert davon, schrieb ich kleine Verse, zeigte sie Freundinnen. Weil das Impressum der Schulheftchen auf Landesverlag lautete und weil diese Firma gleichzeitig Papierhandlungen betrieb, ging ich eines Tages in der Mittagspause mit zwei Freundinnen dorthin, wo wir sonst Bleistifte kauften. Die Blätter mit den Gedichten in Schönschrift hatte ich dabei, und ich bat den Verkäufer, er solle sie doch im nächsten Heft drucken, so wie die der Lehrerin.

Er war sehr freundlich, wenn auch die Konsultation enttäuschend verlief, denn er hatte natürlich keinen Zugang zum Verlag. Obwohl ihm mein Mut, glaube ich, imponierte. Die nächste Chance kam dann mit einem Schreibwettbewerb, bei dem ich einen zweiten Preis gewann. Seitdem schrieb ich immer weiter. Natürlich heimlich.

Theaterstücke für die Mädchenbande in unserer Gegend. Liedtexte, Gedichte und Berichte fürs Jugendradio, die sogar gesendet wurden. In Wels gründeten wir eine Schülerzeitung, für die ich dann schrieb. Die Welt, die ich mir damit schuf, war von der Welt meiner Herkunft völlig abgetrennt.

Schneeweißchen oder Rosenrot

Nachdem wir Kinder das Elternhaus verlassen hatten, verlegte meine Mutter ihre Welt ins ehemalige Bubenzimmer, richtete sich dort eine Nähstube ein. Weil Nähen nützlich war und sie sich dadurch eigenes Geld verdiente.

Aber sie hortete dort auch Bücher. Las viel. Sie war unglücklich. Immer schon. Suchte sich Lektüre, die ihr das Unglück nicht nur erklärte, sondern bestätigte. Sie war es ja gewesen, die uns Kinder mit der mächtigen Welt der Sprache bekanntgemacht hatte. Das Essen, die Kleider, die Sprache waren ihr Zutun. Die Märchenwelt. Das zerrissene Fell des Bären. Da schimmerten wertvolle Seidenstoffe durch, die den Körper eines Prinzen darunter andeuteten.

Die Zerrissenheit, nicht zu wissen, welches von den beiden Mädchen ich war. Schneeweißchen oder Rosenrot? Jahrelang war ich auch Rotkäppchen und lief mit meinem Korb zwar nicht durch den Wald, aber den Fluss entlang ins Haus meiner Großmutter. Jahrelang hingen flache Stoffzwerge an meinem langen gebauschten Rock. Identifikationen, die meine Mutter mir nahegebracht hatte, mittels Sprache und Nähmaschine.

Misslungene Kommunikation

Für sich selbst suchte meine Mutter die düsteren Geschichten aus und bestand darauf. Die Kommunikation misslang. Erbitterte Streitereien. Die Bücher, die ich ihr schenkte, vergrößerten den Graben zwischen uns. Was sie davon nicht verstand, entäußerte sich als Vorwurf. Ich wolle ihr mit der Auswahl dieser Bücher vorführen, dass sie dumm sei, die Welt nicht begreifen könne, in die ich mich inzwischen begeben hatte.

Trotz aller Verbote. Ich wolle ihr zeigen, dass ich klüger sei als sie. Wolle sie heruntermachen. Meine Mutter hatte die Hilflosigkeit als einzige Form ihrer Existenz erlernt. Die Literatur, die sie las, konnte diese Gegebenheit verstärken.

Ihren Lesestoff wählte sie gemäß ihrer dunklen Stimmung. Das Bild der Welt, das sie sich daraus zusammensetzte, kam ohne Hoffnung aus. Je selbstzerstörerischer, desto besser. Sprache diente dazu, noch inniger zu schweigen.

Literatur befreit nicht selbstredend aus der Hilflosigkeit, weil die Worte und inneren Bilder je nach den Bedürfnissen des Lesenden interpretiert werden. Es gibt immer mehrere Möglichkeiten, einen Text auszulegen. Meine Mutter schuf sich im Lesen eine Festung, in die niemand dringen sollte.

Indem sie diese Mauern errichtete, brachte die Bestätigung durch Worte sie ihrer Erlösung dennoch näher. Denn eigentlich wollte sie ihr Leben lang nur sterben. Was ihr schließlich gelang. Die Bücher haben meine Mutter aber auch zum Schreiben angeregt. Ich denke nicht gern daran. Weil diese Worte, die sie in endlosen Briefen zu Papier brachte, dazu dienten, ihr todessüchtiges System festzumauern.

Schrein der Hilflosigkeit

Viel zu spät erst bat ich sie, diese Manifeste ihres Schmerzes nicht mehr an meine Adresse zu schicken, weil mein eigenes Leben viel zu schwierig geworden war. Nach ihrem Tod fragte mein Vater, ob er den Wust ihrer Schriften durchlesen solle, und ich sagte Nein.

Also hat er alles so gelassen. Die Bücher, die Nähmaschine, die Briefe, die Musikkassetten, die sorgfältig geordneten Nähgarnrollen, die Reißverschlüsse, die Stoffreste, die Saumbänder, gerollt und in Laden geräumt. Ihre selbst gestrickten Jacken hängen seit fast neun Jahren an der Garderobe gleich beim Eingang.

Ich vermeide es, dieses Zimmer zu betreten, wenn ich zu seltenen Anlässen das Elternhaus betrete, weil ich es überhaupt vermeide, das Elternhaus zu betreten. Die Nähstube ist ein Schrein der Hilflosigkeit, der auch die Literatur nichts entgegensetzen konnte.

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Als Kind gelang es mir, im Lesen für die Dauer eines Buches alles um mich herum zu vergessen.
Foto: Picturedesk.com / Westend61 / Kniel Synnatzschke

Gegen dieses Erbe, das ich in mir trage, hilft der Schreibtisch. Die Hilflosigkeit bringt mich zum Schreiben. Dieser Horror ist mein Motor. Deswegen fange ich immer wieder an. Weil ich in Texten mit Sprache eine Welt entwickle. Eine, die ich nicht kenne, bevor ich beginne. Die sich mir öffnet. Für die ich schwitze und um die ich bange. Und der ich schließlich wieder entkomme, reicher an Erfahrungen und unerlöst. Durch Erzählen kann ich überleben, durch Geschichten zögere ich den Tod hinaus.

Worte können trösten

Um feststellen zu können, ob die Literatur ein Mittel gegen Hilflosigkeit darstellt, ist es nötig, zu unterscheiden, ob wir von Lesenden oder Schreibenden sprechen und ob es sich beim Geschriebenen um Literatur handelt. Dass Schreiben, sich eine Erzählung für schmerzhaftes Geschehen schaffen, hilft, ist inzwischen neurowissenschaftlich erwiesen.

Worte können trösten. Ihr Klang entscheidet über die emotionale Färbung, die sie auslösen. Ihre lautlichen Strukturen evozieren Bilder des Gegenstands, den sie benennen. Allein das Wort hüpfen zu hören löst Reaktionen in Gehirnarealen aus, die die Bewegungen des Hüpfens aktivieren.

Schreiben kann heilen, psychisch, sogar physisch. Aber das heißt erstens nicht, dass daraus auch immer Literatur wird, und zweitens wirkt Literatur nicht per se einfach ins Blaue wie die Luft oder die Düfte, die Kräuter und Blüten verströmen. Zu Literatur muss der Zugang gefunden werden, und das ist bei weitem nicht selbstverständlich.

Wenn es keine Bibliotheken, keine Schulen, keine Lehrerinnen mehr gibt, die das Lesen fördern, kommen diejenigen, denen Literatur helfen könnte, nie dazu, sie je zu entdecken.

Die Barriere existiert, auch heute. Ich mache mir das immer wieder klar, weil ich zurückschauen kann. Bis ganz nach hinten, an das andere Ende, von wo ich herkam, dort, wo Literatur nichts zählt, eine Spinnerei darstellt.

"Die öffentliche Bücherei in Wels konnte sie mir nicht verbieten. Dort las ich mich durch die Weltliteratur. Die Bibliothek war mein Freiraum. Jedes Buch eine weitere Tür ..."
Foto: Heribert Corn www.corn.at

In meinem Schreiben möchte ich Anschlussstellen bieten und dennoch die Sprache nicht verraten. Das heißt nicht, dass Literatur ausschließlich einen Nutzen haben muss. Aber sie soll sich offenhalten, meine ich. Das Wichtige ist, dass es Lesende gibt, die sich in der Literatur erkennen und so aus ihrer Einsamkeit erlöst werden. Dass sie lesend Handlungsmöglichkeiten einüben.

Das kann von Anweisungen, wie man gegen einen übermächtigen Fisch kämpft, sich aus restriktiven Familienverhältnissen löst, bis zur Lust an Rhythmen und lautmalerischen Worten reichen. Dieses Hineinschlüpfen in andere Wesenheiten, so wie bei Schneeweißchen und Rosenrot. Dort ist der Ort, an dem Lesende und Schreibende einander begegnen. (Sabine Scholl, 23.3.2020)