Einer der größten Lyriker der deutschen Sprache ist Friedrich Hölderlin für Rüdiger Safranski. In seiner Biografie "Komm! ins Offene, Freund!" (Carl-Hanser-Verlag, München 2019), deren Titel eine Zeile aus der Elegie "Der Gang aufs Land" aufgreift, mit der Hölderlin seinem treuen Freund Christian Landauer einst eine Liebeserklärung dichtete, geht er der Frage nach, was das für ein Feuer ist, das in Leben und Poesie Hölderlins brennt. Behutsam folgt er den Spannungen im Leben Hölderlins, die dessen Geist schließlich zerrissen.

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"Bei Hölderlin bekommt die ferne Antike existenzielle Bedeutung", erklärt Safranski die Beziehung Hölderlins zu den griechischen Göttern.
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STANDARD: Herr Professor Safranski, Sie haben Friedrich Hölderlin jahrzehntelang in Ihren Büchern umkreist. Aber erst jetzt, im Vorfeld der 250. Wiederkehr seines Geburtstags, widmen Sie ihm eine Biografie. Was ließ Sie so lange zuwarten?

Safranski: Im Blick hatte ich den Hölderlin immer. Zeitweilig verfolgte ich sogar das Ritual, morgens eine halbe Stunde lang seine Gedichte auswendig zu lernen. So ist er mir innerlich sehr nahe. Spätestens bei meiner Schiller-Biografie, als ich die Beziehung zwischen Schiller und Hölderlin darstellte, war mir klar, dass ich ein Hölderlin-Buch schreiben werde. Im Rückblick denke ich, dass es gut war, gewartet zu haben. Vielleicht muss man doch ein wenig älter sein, um sich angemessen mit Hölderlin beschäftigen zu können.

STANDARD: Ist Ihre Biografie tatsächlich die einzige, wenn man von der Pierre Bertaux' absieht, dem es vor allem darum ging zu beweisen, dass Hölderlin nicht geisteskrank war?

Safranski: In den 1920er- und 1930er-Jahren erschienen große, dickleibige Biografien. Unter ihnen gefällt mir die von Wilhelm Michel sehr gut. Zum Glück ist sie noch lieferbar. Aus neuerer Zeit gibt es eine Romanbiografie von Peter Härtling, die mir allerdings zu intim ist. Das große Verdienst fällt tatsächlich Pierre Bertaux zu, der auch den politischen Hölderlin, den Jakobiner, herausstellte. Bertaux liebte Hölderlin über alles. Deswegen wollte er auch seinen Zusammenbruch nicht akzeptieren. Die These von dem edlen Simulanten, die sicher nicht zu halten ist, hat er allein aus Liebe aufgestellt. Hölderlin ist allerdings so wichtig, dass sich jede Generation an ihm versuchen muss.

STANDARD: Noch während seines Studiums auf dem Tübinger Stift beginnt Hölderlin 1791 sein Romanwerk "Hyperion". Sie nennen es "ein philosophisch hochambitioniertes Romanprojekt". Erfüllt Hölderlin damit das Ideal des denkenden Dichters nach dem antiken Dichter Pindar?

Safranski: Pindar ist auf dem Gebiet der Lyrik Hölderlins große Vorbildfigur. "Hyperion" ist jedoch ein Roman und als solcher nicht geglückt. Wir haben es mit Briefen zu tun, in denen sich ein Hyperion gegenüber einem Freund ausspricht. Ein wirkliches Gegenüber aber ist nie da. Das ist eine konzeptionelle Schwäche, die auch verhindert hat, dass der Roman in seiner Zeit ein großer Erfolg wurde. Er war ein Achtungserfolg und bot manchen Anlass, ihn als genialen Geheimtipp zu sehen. Aber Hölderlin wollte mit ihm als Schriftsteller erfolgreich sein, und zwar auch ökonomisch.

STANDARD: "Ich denke nach", zitieren Sie aus dem Roman, "und finde mich, wie ich zuvor war, allein, … die ewigeinige Welt, ist hin; die Natur verschließt die Arme, und ich stehe, wie ein Fremdling, vor ihr …" Kann man dieses Zitat auch autobiografisch verstehen?

Safranski: Vieles bei Hölderlin ist ein subtiler Ausdruck inneren Befindens. Was in diesem Zitat ebenfalls anklingt, ist das Auf und Ab zwischen Ekstase und Ernüchterung. Auf Momente der Intensität und des Einheitsgefühls folgen das Verschließen und die Erstarrung. Da ist das Öffnen für eine transzendente Erfahrung, und auf einmal taucht die Kälte der Bezugslosigkeit und der Sinnlosigkeit auf. Das ist eine Grundmelodie, von der Hölderlin stark geprägt ist. Nachdem er einen Höhepunkt erlebt hat, ihm etwas gelungen ist, findet man in Briefen immer wieder Berichte, wie er abstürzt, in die Gewöhnlichkeit und den Alltag hineinrutscht und davon gefangen genommen wird.

STANDARD: Welchen Anteil hatte an diesem Gefühl der Entfremdung in Hölderlins Leben und seiner Angst, sich selbst verloren zu gehen, die Mutter?

Safranski: Die Mutter war gutmeinend. Aber sie wollte, dass ihr Sohn Pfarrer wird. Seine Widerstände und seine Andersgerichtetheit verstand sie zunächst nicht, und als Hölderlin es endlich fertigbrachte, sie mit seiner Dichtung zu konfrontieren, akzeptierte sie das nicht. Hinzu kam der materielle Aspekt. Hölderlin war ein nicht unvermögender Mann. Seine Mutter hielt ihm jedoch sein Erbteil vor, weil sie es aufsparen wollte, bis er eine Pfarrstelle hatte und eine Familie gründete. Es ist nicht auszudenken, wie sein Leben verlaufen wäre, wenn er früh in den Besitz seines Erbes gekommen wäre. Vielleicht hätte er sich eine Existenz als Dichter aufbauen können.

STANDARD: Mehrfach betonen Sie Hölderlins Anziehungskraft auf Männer und Frauen. "Priester der Poesie" nennen Sie ihn einmal. War er das auch in seiner Erscheinung?

Safranski: Hölderlin war von auffallender Schönheit. Wer ihn am Tübinger Stift sah, meinte, es würde ein Apoll durch den Raum schreiten. Man darf ihn sich nicht als jemanden vorstellen, der dauernd vereinsamte. Gerade weil er so anziehend wirkte, war er immer von Menschen umgeben, Freunden, Männern, die um seine Freundschaft anhielten, und Frauen. Er verliebte sich schnell und war empfänglich für die Liebe von Frauen und von Männern. Mit Isaac von Sinclair verband ihn eine erotische Beziehung. Das ist auch auffällig am "Hyperion", dass Hölderlin darin nichts so leidenschaftlich schildert wie die Freundschaft zu einem Mann.

STANDARD: An diesem Tübinger Stift studierten damals drei herausragende Geister gleichzeitig: Hegel, Schelling und Hölderlin. War das eine besondere Zeit?

Safranski: Ja, dieser Freundesbund steht in der Tat am Anfang des deutschen Idealismus. Über ein paar Generationen hinweg waren die drei sogar miteinander verwandt. In ihrer Zeit am Tübinger Stift und in den Jahren danach fand wirklich etwas Aufregendes statt, das einen Nukleus bildet für die geistige Entwicklung damals.

STANDARD: Sie zitieren aus einem Text, der bei einer Auktion auftauchte und 1917 unter dem Titel "Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus" erschien. Hegel, Schelling und Hölderlin trugen ihre Ideen zu dem Text bei. Aber was wurde daraus?

Safranski: Es ging den dreien darum, die verknöcherte Religion in der Gestalt des schwäbischen Protestantismus zu erneuern und eine neue Erfahrung des Göttlichen auf den Weg zu bringen. Mit dem Herzen und einem fantasievollen Verstand müsse die Religion neu ergriffen werden. Da spielt auch das Politische eine Rolle. Alle drei waren begeisterte Anhänger der Revolution, und sie träumten von einer neuen Brüderlichkeit unter den Menschen. Nicht das Kreuz stand für sie im Vordergrund, sondern die zirkulierende Liebe. Das Dokument, das sie zusammen ausheckten, ist nur als Fragment in der Handschrift von Hegel erhalten. Das Projekt hat dann jeder der drei auf seine Weise fortgesetzt. Hölderlin fühlte sich als Poet berufen, die Wiederkehr einer alten Religiosität, nämlich der griechischen, die zur neuen werden sollte, in seinen Gedichten zu beschwören.

STANDARD: Liegt in dieser griechischen Religiosität etwas von jenem Feuer, das in Hölderlins Leben und seiner Poesie brennt?

Safranski: Ja, allerdings darf man sich nicht vorstellen, dass Hölderlin in naiver Weise an die griechischen Götter glaubte. Es war bei ihm vielmehr ein Verständnis des Lebens. Hölderlin leidet unter Verhältnissen, die nur noch einen ernüchternden Alltag, eine Fremdheit zwischen den Menschen und eine Sinnlosigkeit beinhalten. Das nennt er die Götternacht. Man kann es auch Ökonomisierung und Säkularisierung unserer Welt nennen. Dagegen stellt er jene Erfahrungen, die einem in bestimmten Momenten der Freundschaft, der Liebe, des Abschieds, der Trauer oder der Hoffnung das Gefühl geben, als sei eine neue Dimension aufgegangen, der Horizont weiter geworden. Dass man dafür bestimmte Götter einsetzt, ist dann eine Bildgebung.

STANDARD: Ist uns die Antike heute zu fern, um Hölderlin zu begreifen, oder ist es seine Sicht auf die Antike, die diese Ferne bewirkt?

Safranski: In dieser ganzen Zeit des Idealismus begeisterten sich alle für die Antike und nahmen sie als künstlerisches Vorbild. Dennoch blieb sie allen, einschließlich Goethe und Schiller, ein fernes artistisches Gebilde. Bei Hölderlin aber bekommt diese ferne Antike auf einmal existenzielle Bedeutung und wird ganz nahe. Wir sind bei ihm einem Spiel von ferner Antike und plötzlicher Nähe ausgesetzt, das ich überaus spannend finde und das ihm bereits zu seiner Zeit eine besondere Stellung gab.

STANDARD: Am Ende Ihrer Biografie schreiben Sie erneut von der Ferne Hölderlins und fragen, ob er uns noch erreiche. Womit könnte er uns denn erreichen?

Safranski: Ich würde schon den "Hyperion" empfehlen. Das ist kein Roman mit dramatischer Handlung. Aber er nimmt einen durch seinen lyrischen Schwung gefangen. Das gilt auch für die Gedichte. Sie ziehen einen hinein. Als eines seiner schönsten Gedichte empfinde ich "Hälfte des Lebens". Es besteht nur aus zwei Strophen. Manchen Gedichten muss man länger zu Leibe rücken, bis sie sich einem erschließen. Aber Gedichte wie "Abendfantasie" oder "Andenken" bezaubern auf Anhieb. Und dann merkt man, dass wir in Hölderlin einen der größten Lyriker der deutschen Sprache haben. (Ruth Renée Reif, 20.3.2020)