Warum das Elsass so hart getroffen ist, steht mittlerweile außer Zweifel: Die Ansteckung rührt von einem evangelischen Kirchentreffen in Mulhouse, wo vom 17. bis 24. Februar 2.000 Gläubige beteten, fasteten, sich die Hand gaben, sich umarmten. Danach verbreitete sich das Coronavirus wie ein Lauffeuer. Mangels Adresslisten konnten die Teilnehmer aus Frankreich, Deutschland und der Schweiz nicht einmal kontaktiert werden.

Viele liegen nun in den Spitalbetten Ostfrankreichs. Die Region zählt bereits hundert Virustodesopfer, und der Zähler steigt ohne Unterlass. Die 300 Plätze auf den Intensivstationen der öffentlichen Spitäler von Mulhouse, Colmar und Straßburg sind einzig mit Corona-Kranken belegt. Und sie genügen längst nicht mehr, wie Marc Noizet, Chef der Intensivstation in Mulhouse, schon Anfang Woche klargemacht hat.

Lebensnotwendige Beatmung

Was die unausweichliche Folge ist, sagte er nicht: eine Selektion der Überlebenden. Ein Pfleger berichtete dem Privatsender BFM von einem Schreckensszenario wie in der italienischen Stadt Bergamo: "Einzelne Intensivärzte denken darüber nach, keine Patienten über 75 mehr zu intubieren." Ohne Beatmung haben diese geschwächten Patienten keine Überlebenschance.

Der anonyme Pfleger erzählte weiter, dass ältere Patienten in der Intensivstation verschieden, obwohl man ihnen zwei Stunden vorher noch 15 Liter Sauerstoff angeschlossen habe. "Und die Familien sind nicht einmal zugelassen, um den Sterbenden beizustehen", meinte er, seine persönliche Verzweiflung nicht verhehlend. Die Spitäler im südlichen Elsass genießen an sich einen guten Ruf; auch die Bettenzahl pro Einwohner liegt über dem französischen Schnitt. Doch jetzt fehlt es dem Personal an allem – Schutzmasken, Handschuhen, Desinfektionsgel und Beatmungsgeräten.

Armee fliegt Patienten aus

Staatspräsident Emmanuel Macron bot deshalb Anfang der Woche die Armee auf. Am Mittwoch flog sie erste Patienten in Militärspitäler südfranzösischer Städte wie Toulon und Marseille aus. Am Freitag begann in Mulhouse zudem der Aufbau eines Feldlazarettes mit 30 Reanimationsgeräten, wie Verteidigungsministerin Florence Parly am gleichentags mitteilte. Ab Montag soll das in mehreren Dutzend Zelten untergebrachte Militärspital operativ sein. Es ist das erste Mal, dass ein französisches Armeelazarett in Friedenszeiten zum Einsatz kommt.

Patienten werden von der Armee ausgeflogen.
Foto: APA/AFP/Bozon

Neben der Armee versuchen zahllose Elsässer Bürger so weit wie möglich zu helfen. Auf der Webseite "Mulhouse résiste" (Mulhouse widersteht) offerieren sie Esshilfen bis hin zu therapeutischen – digitalen – Gesprächsgruppen. Das landesweite Ausgehverbot ist in hauptbetroffenen Städten wie Mulhouse besonders schwer zu ertragen. Laut der Elsässer Senatorin Fabienne Keller ist die – viel weniger mediatisierte – Lage in den Altersheimen der Umgebung ebenso dramatisch wie in den Spitälern. Aber auch die sozialen Medien sind zunehmend infiziert: In Mulhouse grassieren falsche Gerüchte, zuletzt etwa, die Eisbahn Illberg werde in ein Leichenschauhaus verwandelt.

Gesittete Debatte

Im ganzen Elsass wogt nicht ganz überraschend eine gesundheitspolitische Debatte, die immerhin gesittet abläuft und direkte persönliche Angriffe vermeidet. Der Regierung in Paris wird vorgeworfen, sie habe die Lage zu spät erfasst und vor allem das Problem der mangelnden Schutzmasken vernachlässigt. Linkspolitiker erinnern daran, dass Angestellte der heute betroffenen Spitäler im vergangenen November, also noch vor Ausbruch der Corona-Krise, in den Straßen von Mulhouse und Straßburg vergeblich für mehr Mittel demonstriert hätten.

In Mulhouse wird ein Feldlazarett errichtet.
Foto: APA/AFP/Bozon

Auf der Rechten wird dagegen moniert, dass die Behörden aus ideologischen Motiven darauf verzichteten, die Privatkliniken der Umgebung einzuspannen. Deren Verband FHP hätte in Straßburg, Metz und Nancy 70 Intensivbetten zur Verfügung, doppelt so viele wie im nun errichteten Armeelazarett.

Kein grenzübergreifendes Vorgehen

Die noch zahlreicheren, bisher unbenutzten Intensivbetten jenseits der nahen Landesgrenzen sind für die französischen Gesundheitsbehörden offenbar kein Thema. Deutsche und Schweizer Spitäler sind laut übereinstimmenden Meldungen weder angefragt worden, noch haben sie von sich aus Hilfe anerboten. Erwarteten beide Seiten einen ersten Schritt der anderen Seite? Wollen sie ein Übergreifen der Epidemie verhindern – oder wappnen sie sich schon für die erwarteten Fälle im eigenen Land?

Sicher scheint nur, dass die europäische Idee bis heute nicht so weit gereift zu sein scheint, dass ein Austausch über die Grenzen in Erwägung gezogen würde. Traurig, aber wahr: Je ernster die Lage, desto nutzloser wirkt der "Eurodistrikt" im Dreiländereck. (Stefan Brändle aus Paris, 20.3.2020)