Im Gastkommentar spricht sich Hellmut Butterweck, früherer Wissenschaftsredakteur und Theaterkritiker, dafür aus, das menschliche Gewinnstreben als treibende Kraft unserer Wirtschaft zu hinterfragen. Ulrich Brand und Heinz Högelsberger vom Institut für Politikwissenschaft an der Universität Wien ziehen im Gastkommentar Vergleiche zwischen Corona- und Klimakrise. Nico Hoppe sieht den Enthusiasmus, mit dem individuelle Krisenbewältigungsstrategien zelebriert werden, mit Sorge.

Eine Durchhalteparole, gesehen in Wien: Ruhig bleiben, Hände waschen!
Foto: EPA / Christian Bruna

Vielleicht sollten wir uns in diesen Tagen auch einmal vor Augen halten, dass wir mit Covid-19 und dem Coronavirus erstens noch Glück hatten, und zweitens sogar in doppelter Hinsicht Glück. Erstens, weil es, verglichen mit H1N1, dem Influenza-Erreger von 1918/19, weniger gefährlich ist. Zweitens, weil es als Warnung genau zur richtigen Zeit kommt. Nämlich, nicht so weiterzumachen wie bisher.

Die Spanische Grippe wurde im Ersten Weltkrieg von US-Truppen aus den USA nach Europa mitgebracht und erfasste die ganze Welt. "Spanische" hieß sie, weil spanische Zeitungen über ihr dortiges Auftreten berichtet hatten, während in den kriegführenden Staaten alle Nachrichten unterdrückt wurden. Wie in Wuhan wurde auch Anfang 1918 in den USA die Warnung eines örtlichen Arztes vor einer neuen Krankheit von den höheren Stellen missachtet. Viel dagegen tun hätte man damals aber nicht können.

Millionen Tote

In einem Army-Ausbildungslager in Haskell County mit 58.000 Rekruten waren binnen kurzem viele Soldaten infiziert, 1.100 schwer erkrankt und 38 gestorben. Anders als Covid-19 raffte die Spanische Grippe vor allem 20- bis 40-Jährige dahin, etwa Egon Schiele und seine Frau. Unmittelbare Todesursache war wie heute meistens eine Lungenentzündung, 99 Prozent der Opfer waren unter 65 Jahre alt. In Europa und den USA starben mehr Menschen als im Ersten Weltkrieg, weltweit nach jüngsten Berechnungen an die 50 Millionen.

Die bei der arbeitenden Bevölkerung meist milde verlaufende Coronavirus-Pandemie legt den internationalen Verkehr und das gewohnte Leben lahm, mit unabsehbaren ökonomischen Folgen. Dabei ist Covid-19 bei weitem nicht so infektiös wie die Spanische Grippe. Wie wir dastünden, wenn auch diesmal die Opfer junge Menschen wären und die Ausbreitung noch schneller verliefe, malt man sich lieber nicht aus. Doch ein ebenso oder noch gefährlicherer Erreger kann jederzeit auftreten.

Exponentielles Wachstum

Wenige Monate vor der Coronavirus-Pandemie wurden Millionen Menschen für die Folgen einer weiteren Aufheizung des globalen Klimas sensibilisiert. Und nun das. Auf das Klimaproblem reagierte die Politik etwa mit der Forderung von Angela Merkel, die Wirtschaft dürfe unter den eingeleiteten Maßnahmen nicht leiden. Dies kann nur als klare Absage an all jene verstanden werden, die ein Wirtschaftssystem infrage stellen, das auf kontinuierliches Wachstum angewiesen ist. Ausdruck dieser Haltung ist die politische Forcierung des E-Autos. Es fährt in eine Sackgasse der technischen Evolution, weil für die Akkus große Mengen mehr oder weniger schnell dahinschwindender Rohstoffe gebraucht werden. Man will das eine, die Reduktion des CO2-Ausstoßes durch den Straßenverkehr, auf Kosten des anderen erreichen, nämlich der endlichen Vorräte. Hauptsache, es geht weiter wie bisher.

Mit Covid-19 rückte plötzlich die Dynamik exponentieller Wachstumsprozesse ins Blickfeld. Auch die Wirtschaft wächst exponentiell, und derzeit muss sie es tun, wenn die Arbeitslosigkeit nicht explodieren soll. Die Wirtschaftsleistung verdoppelt sich nicht wöchentlich, sondern bei 1,5 Prozent kontinuierlichem Wachstum pro Jahr in etwas mehr als 46 Jahren. Sollen unsere Kinder anno 2066 doppelt so oft wie wir ein neues Auto kaufen und in den Urlaub fliegen, unsere Urenkel in 90 Jahren den achtfachen Verkehr und die achtfache Bautätigkeit ertragen und achtmal so oft wie wir schnell eine Tasse Tee trinken? Um eine bestimmte Wachstumsrate zu erzielen, müssen nämlich alle Bereiche entsprechend wachsen – oder Teile überproportional. Welche könnten das sein? Und wie soll das Klima das aushalten?

Zügelloses Gewinnstreben

Das Gerede vom qualitativen Wachstum statt dem quantitativen ist eine schöne Illusion. Wirtschaftswachstum drückt sich in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung aus, sonst ist es keines. Steigerungen der Qualität gehen nur dann in sie ein, wenn die Produkte auch teurer werden. Der technische Fortschritt findet heute aber großteils bei sinkendem Einsatz von menschlicher Arbeit und gleichbleibenden oder sinkenden Preisen statt. In meinem Buch Staat wach auf! (Böhlau, Wien 2019) exemplifiziere ich das anhand der Autopreise.

Zu den Wachstumsgrenzen, zum Klimaproblem, zur Verschleuderung von Ressourcen, zu einem brüchigen Wohlstand auf Kosten aller nach uns lebenden Generationen kommt nun, durch Corona, die drastische Erinnerung daran, dass sich unsere technische Zivilisation durch immer engere und kompliziertere Verflechtungen und einen anschwellenden Luftverkehr auch immer verwundbarer macht – durch ökonomische Störungen, aber, wie sich jetzt zeigt, auch durch Naturkatastrophen aller Art. Corona lässt uns noch verhältnismäßig glimpflich davonkommen. Wer an Gott glaubt, kann in Corona seinen deutlichen Fingerzeig sehen. Wer nicht an Gott glaubt, einen Wink des großen Demiurgen namens Zufall.

Die treibende Kraft unserer Wirtschaft ist das menschliche Gewinnstreben unter Ausschluss jeder in die Zukunft blickenden steuernden Intelligenz. Es gibt keine Instanz, die einem überschießenden Gewinnstreben Zügel anlegen könnte. Wenn wir auch jetzt noch nicht beginnen, darüber nachzudenken und einen von allen Vorgaben nach dem Muster von Merkels "Aber die Wirtschaft darf nicht leiden" freien Diskurs über unsere Art zu leben einzuleiten, ist uns möglicherweise wirklich nicht mehr zu helfen. (Hellmut Butterweck, 21.3.2020)