Ein Blick aus dem Fenster. Mehr geht derzeit oft nicht. Das Leben ist in die eigenen vier Wände verlagert worden. Damit es dort nicht zu eng wird, braucht es Strukturen, bewusste Auszeiten und Zuversicht.

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Für unvorhersehbare Situationen gibt es selten eine Handlungsanweisung. Kein Wunder, dass wir uns an unsere neue Realität daheim erst einmal gewöhnen müssen. Homeoffice installieren. Vorräte auffüllen, zumindest so weit, dass man nicht jeden Tag hinausgehen muss. Kinder beschäftigen – möglichst pädagogisch wertvoll. Arbeiten. Kochen. Waschen. Putzen. Eltern und Großeltern versorgen. Das ist viel auf einmal. Hinzu kommen permanente Updates zum Coronavirus auf allen Kanälen, Wasserstandsmeldungen zu rapide steigenden Arbeitslosenanträgen, Kurzarbeitsmodelle, Hilfspakete und die Frage: Wie bin ich von all dem eigentlich betroffen? Während die Kinder toben, das Telefon läutet, der Hund bellt und die sonst so sanfte Katze an der Couch kratzt.

Ein Netz aus Überforderung, Angst und Verzweiflung spinnt sich – der Druck, wenn alle den ganzen Tag aufeinanderpicken, steigt. Weil wir das einfach alle nicht gewohnt sind. Und weil man nicht weiß, wie lange dieser Zustand anhalten wird.

Plan erstellen

Um das neue Leben at home gut hinzubekommen, rät der Psychotherapeut Wolfgang Wilhelm, einen fixen Plan zu erstellen. Arbeitszeit und Freizeit gehören auch jetzt gut getrennt. Hobbys, die man trotz der aktuellen Schutzvorkehrungen ausführen kann, bitte weitermachen. Und man soll die Arbeiten im Haushalt besser aufteilen: Wer bringt den Mist weg, wer kümmert sich um die Katzenkiste? Wann räumen wir auf, wer ist für welchen Raum zuständig – das gehört organisiert. Wilhelm rät dazu, in kleinen Zeiteinheiten denken: Was hat uns gestern Spaß gemacht, wie wollen wir es heute angehen? "Wichtig ist auch, eine Struktur aufzubauen", unterstreicht Claudia Röschl, Beraterin und Coach. Es braucht einen definierten Ort, an dem gearbeitet beziehungsweise gelernt und gespielt wird. Strukturen geben Sicherheit und helfen, durch den neuen Alltag zu kommen.

Auszeiten nehmen

Abschalten. Durchatmen. Den Kaffee genießen. Eine halbe Stunde ausruhen. Musik hören. Auszeiten sollten laut Wilhelm jetzt sehr bewusst eingeplant werden. Sie helfen, den Stress abzubauen. Mit Kollegen, Freunden, Nachbarn, Geschwistern und Eltern telefonieren. Gemeinsam über die Situation reden, Tipps holen, Sorgen besprechen. Der Therapeut rät, auch eine fixe Zeit für den Medienkonsum einzuplanen und darauf zu achten, Qualitätsmedien zu konsumieren. Zudem könne man die Zeit auch sinnvoll nutzen. Etwa aufgeschobene Putzpläne abarbeiten und bewusst schöne Elemente in den Tag einbauen. Brettspiele wiederentdecken. Malen. Basteln.

Ruhe bewahren

Viele von uns wollen Dinge gerne einordnen. Beim Coronavirus ist das aber schwer. "Der erste Ansatz ist meist Verleugnung: Das ist eh nur wie eine Grippe", erklärt Wilhelm. Das hält aufgrund der raschen Ansteckungsrate und der gesetzten Maßnahmen aber nicht mehr. "Also tendieren wir oft dazu, zum schlimmsten Szenario zu wechseln", so der Experte. Doch das hilft uns jetzt nicht weiter. Derzeit müssen wir die Lage einfach so hinnehmen, wie sie ist: Ja, wir wissen vieles noch nicht über das Virus. "Aber wir wissen, dass Händewaschen und Kontaktvermeidung helfen", sagt Wilhelm. Darauf sollten wir uns stützen.

Jeder kann etwas tun und helfen, die Gesamtsituation zu verbessern – das gibt Zuversicht. "Wir haben für diese einzigartige Krise keine Referenzen, auf die wir zurückgreifen können", erklärt Röschl die vielerorts spürbare Verunsicherung. Was hier hilft: die Lage immer wieder neu bewerten. So wie es die Regierung auch tut.

Kinder sollten mit Krisenfakten nicht überfordert werden. Dennoch sollte man mit ihnen reden, sie in den Alltag aktiv einbeziehen und erklären, warum jetzt gerade alles anders läuft. "Kinder spüren die Nervosität ihrer Eltern", sagt Wilhelm. Damit sollten sie nicht alleingelassen werden.

Zusammenhalten

Alle sind durch die neue Lage herausgefordert. Es zeigt sich aber, dass der Zusammenhalt innerhalb von Familien und anderen Gemeinschaften wächst. Jüngere Nachbarn versorgen ältere, Enkel ihre Großeltern. "Diese Zeit der verordneten Verlangsamung zeigt gesellschaftlich eine neue Komponente von Fürsorge, Achtsamkeit und auch einen respektvolleren Umgang miteinander", fasst Röschl zusammen. Viele Eltern sind über Kontaktgruppen vernetzt. Ideen für Basteleien, Kinderrezepte, Entspannungsübungen werden auf allen Kanälen ausgetauscht. Man ist nicht alleine – auch jetzt nicht.

Angst zugestehen

Die Zahlen, Fakten und Bilder, die wir täglich zum Coronavirus und zur Lage der Weltwirtschaft erhalten, verunsichern uns. Es entsteht Angst vor den Folgen. Angst führt zu einer hohen Adrenalinausschüttung, die abgebaut werden muss. Schnurspringen, Liegestütze, ein Workout, Yoga, Atmen. "Wichtig ist, dass wir in solchen Phasen körperlich wieder herunterkommen", sagt Wilhelm. Es gilt, auf sich und seine Mitmenschen jetzt besonders achtzugeben. Der enge Raum und die angespannte Lage sollten nicht zu Streitigkeiten führen. "Hier muss aktiv gegengesteuert werden", sagt Wilhelm. Eine Runde ums Haus gehen und dem anderen zugestehen, dass er auch überfordert ist. Kommt es zu Übergriffen und häuslicher Gewalt, gelten aber die bisher bekannten Regeln: Wohnung verlassen und Notrufnummern wählen.

Zuversicht

Ja, die Situation ist herausfordernd. Emotional wie wohl auch finanziell. "Jetzt gilt es, durchzutauchen", sagt Wilhelm. Wir müssen und können heute noch nicht die Lösung kennen. Die Bestandsaufnahme kann daher auf später verschoben werden. "Es gilt, aus der Bewertung des Jetzt Kraft zu schöpfen", sagt Röschl. Mehr denn je sind wir gefordert, im Jetzt zu agieren. Die Rückschau zieht uns emotional hinunter, die Vorschau ist nicht möglich. Röschl rät daher, die Energie nicht in Verzweiflung, sondern in Hoffnung zu investieren. Wir haben genug Essen, Kleidung, Strom, Gas und eine Republik, die darauf achtet, dass die Infrastruktur funktioniert.

"Das normale Leben wird nach der Corona-Krise wieder aufleben", sagt Röschl. Das dürfe jetzt nicht vergessen werden. Wir werden wieder Urlaub machen, ins Kino gehen, in Eisgeschäften sitzen und Feste feiern. Die Beraterin sieht in der verordneten Auszeit vom gesellschaftlichen Miteinander auch eine Chance: "Die Empathie im Miteinander ist höher geworden. Das eröffnet eine neue Qualität in der Zusammenarbeit, die wir uns hoffentlich auch für die Zeit nach Corona erhalten." Denn Corona führe uns vor, dass wir einander brauchen.

"Wir heinzeln das"

Wird es stressig, helfen auch Rituale. Meine vierjährige Tochter und ich greifen derzeit auf ein Zitat aus dem Animationsfilm Die Heinzels – Rückkehr der Heinzelmännchen zurück. Bevor wir streiten, schauen wir uns tief in die Augen und schwören uns: "Wir heinzeln das." (Bettina Pfluger, 22.3.2020)