Bild nicht mehr verfügbar.

Ferrara: Ein Militärkonvoi brachte Särge aus Bergamo auf den Friedhof.

Foto: Massimo Paolone/LaPresse via AP

In der vergangenen Woche sind aus Bergamo Bilder um die Welt gegangen, die im kollektiven Gedächtnis haften bleiben werden: ein langer Militärkonvoi, der in der Nacht auf Donnerstag 65 Särge mit verstorbenen Covid-19-Patienten in andere Provinzen abtransportierte, weil sich auf dem Friedhof der Stadt kein Platz mehr fand und das Krematorium überlastet war. Und kurz darauf dramatische Exklusiv-Aufnahmen eines britischen TV-Senders aus der Intensivstation des Spitals Papst Johannes XXIII, in denen dutzende Patienten unter Plastikhauben zu sehen waren, die sie vor dem Ersticken bewahren sollten.

Das Spital Papst Johannes XXIII ist das drittgrößte in der Lombardei – und es ist in den letzten drei Wochen zu einer Art nationalem Schützengraben im Krieg gegen das Coronavirus geworden. "Ich werde das nie vergessen können: Von überall kommen Patienten mit schweren Lungen- und Atemproblemen, die röcheln und um Luft ringen – viele müssen wir in den Korridoren und in großen Sälen behandeln", berichtete der Chefarzt für Lungenkrankheiten des Spitals, Fabiano Di Marco, am Freitag dem "Corriere della Sera". Inzwischen würden im Krankenhaus von Bergamo 500 Covid-19-Patienten gleichzeitig behandelt: "Auf der Intensivstation verbrauchen wir 8.600 Liter Sauerstoff pro Stunde", sagt der Arzt. Das gesamte Personal des Spitals sei an der Grenze seiner Leistungsfähigkeit.

Ärzte, Pfleger, Bestatter, Priester

Für viele Patienten kommt die Hilfe zu spät – sie überleben die Infektion mit dem Coronavirus trotz künstlicher Beatmung nicht. In Bergamo sind allein in den letzten fünf Tagen 300 Menschen an Covid-19 verstorben. Die Zahl der Todesfälle pro Kopf ist auf das Zehnfache des Vorjahrs gestiegen. Überdurchschnittlich stark betroffen vom Coronavirus ist ausgerechnet das medizinische Personal, das zumindest zu Beginn der Epidemie nicht ausreichend gegen eine mögliche Übertragung geschützt war: In Bergamo haben sich 77 Hausärzte und dutzende von Spitalärzten und Pflegern angesteckt; es gab auch schon Todesfälle. Auch unter Priestern und Bestattern grassiert das Virus: Auch sie kommen täglich in Kontakt mit den Toten und den Angehörigen.

Am Spital Papst Johannes XXIII können längst nicht mehr alle Patienten aufgenommen werden, die es nötig hätten: Beinahe pausenlos heben vor dem Krankenhaus Hubschrauber ab, die Patienten in andere Spitäler ausfliegen, oft auch in andere Regionen, die bisher weniger stark von der Epidemie betroffen sind. Oft sterben Covid-19-Patienten aber auch einfach zu Hause. "Mein Vater ist gestorben wie ein Hund", beklagte in der vergangenen Wochen eine junge Frau in den sozialen Medien: Er habe keinen Platz in einem Spital gefunden. Die tatsächliche Zahl der Toten, das bestätigen auch Experten, dürfte in der ganzen Lombardei noch deutlich über den bereits beklemmend hohen offiziellen Fallzahlen liegen.

Zu früh für Entwarnung

Immerhin: Am Wochenende zeichnete sich in Bergamo und im ebenfalls stark von der Epidemie betroffenen Brescia eine leichte Entspannung ab: Als die Regierung von Giuseppe Conte am 8. März die Lombardei und 14 weitere Provinzen zur "roten Zone" erklärte, hatte die Zahl der Infizierten in Bergamo noch täglich um 25 bis 30 Prozent zugenommen – heute, Samstag, beträgt die Zunahme noch zehn Prozent. Ähnlich ist die Situation in Brescia, wo das Ansteigen der offiziellen Fallzahlen im gleichen Zeitraum von durchschnittlich 27 auf 13 Prozent gesunken ist. Weil die Fallstatistik von vielen Variablen abhängt, ist es laut Experten noch zu früh, um Entwarnung zu geben – aber die Verlangsamung des Anstiegs der Fallzahlen ist immerhin ein erstes Anzeichen dafür, dass die Quarantänemaßnahmen der Regierung allmählich Wirkung entfalten.

Gegenläufig ist die Tendenz dagegen in der Agglomeration Mailand, wo weiterhin täglich über 600 neue Fälle gemeldet werden, obwohl nur noch Personen mit starken Symptomen auf das Virus getestet werden. "In Mailand liegt die prozentuale Zunahme inzwischen deutlich über jener von Bergamo und Brescia, und das bereitet uns große Sorgen", betonte der Gesundheits- und Sozialminister der Region Lombardei, Giulio Gallera, am Wochenende. Er spricht bereits von einer bevorstehenden "Schlacht um Mailand", die man nicht verlieren dürfe. Auch Regionalpräsident Attilo Fontana zeigt sich beunruhigt: "Die Entwicklung der Zahlen ist gar nicht gut – weder jene der Neuinfektionen noch jene der Toten", betonte Fontana.

Grenze der Belastbarkeit

In Mailand liegt der Anteil der Infizierten an der Gesamtbevölkerung zwar noch deutlich niedriger ist als in Bergamo und Brescia – aber die Spitäler der Metropole mit 1,4 Millionen Einwohnern sind ebenfalls bereits an der Grenze der Belastbarkeit angekommen, weil sie viele Patienten aus der übrigen Lombardei aufgenommen haben. Um auf einen wahrscheinlichen weiteren Anstieg von Covid-19-Patienten vorbereitet zu sein, haben die Behörden die Zahl der Betten in den Intensivstationen innerhalb von zwei Wochen von 750 auf 1.250 erhöht, wie Fontana erklärte. Auf dem Mailänder Messegelände soll außerdem ein Feldlazarett mit 300 Betten entstehen. In Cremona ist ein solches bereits in Betrieb genommen worden; in Bergamo wird ebenfalls eines eingerichtet. In den Feldlazaretten werden auch Ärzte mit Covid-19-Erfahrung aus China zum Einsatz kommen.

Sorgen bereitet den Behörden und Experten auch die hohe Sterberate bei den Corona-Infizierten in der Lombardei. In der Region liegt sie bei zehn Prozent – also weit höher als etwa in Wuhan, wo die von den chinesischen Behörden mit 1,5 bis zwei Prozent angegeben wurde. Zu einem guten Teil mag der Unterschied durch die Testmethodik begründet sein – aber letztlich rätseln die Virologen und Immunologen über die gewaltigen Unterschiede. "Wir müssen schnellstens herausfinden, woran das liegt", betont die Virologin Ilaria Capua von der Universität in Florida. "Was in Bergamo passiert, ist schon katastrophal. Aber wenn sich die Anomalie der hohen Sterberate auch nach Mailand ausbreitet, dann gibt es ein Massensterben", betont Capua. Ein Massensterben, das sich auch in anderen Millionenstädten wie London, Paris oder Berlin ereignen könnte. (Dominik Straub aus Rom, 21.3.2020)