Viktor Orbán findet, siehe Bild, dass Ungarn stets an erster Stelle zu stehen habe. Sich selbst betrachtet er als Garanten dafür.

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Ungarns rechtspopulistischer Premier Viktor Orbán wünscht sich vor dem Hintergrund der globalen Coronavirus-Pandemie das totale Durchgriffsrecht. Ein Gesetzesentwurf aus der Feder seiner Justizministerin Judit Varga, der seit Freitagabend dem Parlament vorliegt, würde es ihm im Fall der Annahme durch die Volksvertretung ermöglichen, für unbegrenzte Zeit mittels Verordnungen zu regieren. Zudem könnte das Parlament unbegrenzt außer Betrieb sein – etwa, wenn es wegen der Pandemie an einem Zusammentreten in nötiger Zahl gehindert wäre.

ORF-Korrespondent Ernst Gelegs berichtet aus Budapest über die Maßnahmen, die Ministerpräsident Orban im Kampf gegen das Coronavirus ergreift und wie seine Kritiker darauf reagieren.
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Der Vorlage zufolge kann die Regierung künftig auf dem Verordnungswege "die Anwendung einzelner Gesetze suspendieren, von gesetzlichen Bestimmungen abweichen und sonstige außer¬ordentliche Maßnahmen treffen". Das fühlt sich für viele Kritiker an wie ein Blankoscheck für willkürliches Handeln. Dazu kommt, dass sich dieses Verordnungsregime auf unbegrenzt lange Zeiträume ausdehnen lassen könnte.

In dem Entwurf steht zwar, dass das Ermächtigungsgesetz nur so lange Gültigkeit habe, so lange die Notsituation wegen der Pandemie anhält. Und es steht darin auch, dass das Parlament es aufheben könne. Doch es ist die Regierung, die beurteilt, ob und wann die Gefahrenlage es erlaubt, dass das Parlament wieder zusammentritt.

Der Gesetzesentwurf könnte in dieser oder der nächsten Woche das Parlament passieren. Orbáns Regierungspartei Fidesz hat die dafür nötige Zweidrittelmehrheit. Unabhängige Beobachter sind besorgt, dass Orbán, der schon in seiner bisherigen zehnjährigen Amtszeit stark autoritäre Instinkte gezeigt hat, die neuen Vollmachten und die De-facto-Ausschaltung des Parlaments dazu ausnützen wird, um eine Art Verordnungsdiktatur zu errichten. "Die letzten zehn Jahre haben eindeutig erwiesen, dass die ungarische Regierung jede Situation, in der sie Kontrollinstanzen zu schwächen vermag, missbraucht", schrieb der Budapester Thinktank Political Capital.

Hilfe bei Rebellion

Mit 131 nachgewiesenen Sars-CoV2-Fällen wies Ungarn am Sonntag noch eine vergleichsweise niedrige Ansteckungsrate auf. Doch diese wird in den kommenden Tagen massiv steigen, weil eine hohe Dunkelziffer anzunehmen ist und in Ungarn so wenig getestet wird wie in kaum einem anderen Land. Das Gesundheitssystem ist ausgehungert und unterfinanziert, es fehlt an allem, vor allem an Schutzmasken, Schutzkleidung und Intensivbetten. Bei fortschreitender Pandemie könnte es schneller als anderswo an seine Grenzen stoßen.

"Diese Notstandsgesetzgebung trägt nichts dazu bei, um das ¬ungarische Gesundheitswesen zu stärken", schrieb die Rechtswissenschafterin Kim Lane Scheppele von der Universität Princeton, eine ausgewiesene Kennerin der ungarischen Verhältnisse. "Sie gibt Orbán mächtige Werkzeuge in die Hand, wenn das Virus seinen Tribut fordert und die Bürger des Landes gegen die vermeidbaren Opfer rebellieren werden." Die umfassende Selbstermächtigung würde es Viktor Orbán ermöglichen, die Bevölkerung drakonisch zu disziplinieren und sich an die Macht zu klammern. (Gregor Mayer aus Budapest, 22.3.2020)