Noch vor wenigen Tagen hatte ganz Italien gehofft, dass sich am Wochenende dank der bisher ergriffenen Maßnahmen die ersten Zeichen der Entspannung bemerkbar machen würden – doch am Samstagabend folgte einmal mehr die Ernüchterung: In nur 24 Stunden war die Zahl der Corona-Toten landesweit um 793 gestiegen – der größte Anstieg seit Ausbruch der Epidemie vor einem Monat. Am Sonntag fiel der Zuwachs geringer aus, die Bilanz der Todesopfer überschritt aber die 5.000-Marke und stieg auf 5.476. Insgesamt hatten sich in Italien bis dahin 59.138 Menschen mit dem Coronavirus angesteckt. Die Zahl der Infizierten stieg gegenüber dem Vortag um 3,957 – auch das ein geringerer Anstieg als noch am Samstag. Zivilschutzdirektor Angelo Borrelli warnte am Sonntag aber davor, schon jetzt von einer Trendumkehr zu sprechen.

"Gemeinsam, ohne Angst."
Foto: Carlo Hermann / AFP

Die Regierung von Giuseppe Conte hat auf den weiterhin dramatischen Anstieg der Todesfälle und der Infektionen mit einer weiteren Verschärfung der bereits geltenden Quarantäne-Maßnahmen reagiert: "Wir haben beschlossen, einen weiteren Schritt zu gehen. Die Regierung hat die Entscheidung getroffen, im ganzen Land alle Betriebe zu schließen, die nicht absolut notwendig, entscheidend und unverzichtbar sind, um die Grundversorgung zu sichern", erklärte der Premier in der Nacht auf Sonntag in einer Videobotschaft. Die neuen Maßnahmen seien aber unumgänglich: "Wir befinden uns in der schlimmsten Krise der Nachkriegszeit. Aber gemeinsam werden wir sie meistern", versprach Conte. Er forderte die Italienerinnen und Italiener auf, "Ruhe zu bewahren".

"Diese Toten sind nicht einfach Nummern"

Die meisten Fabriken des Landes werden nun vorerst bis zum 3. April stillstehen. Der Regierungschef versicherte, dass die Grundbedürfnisse der Bevölkerung weiterhin gedeckt blieben: Die Versorgung mit Lebensmitteln und Gütern des Grundbedarfs sowie mit Medikamenten sei sichergestellt. Die Lebensmittelläden und Supermärkte blieben geöffnet, auch am Sonntag; Bank-, Post- und Versicherungsdienstleistungen seien ebenfalls garantiert. "Die italienische Wirtschaft wird gebremst, nicht stillgelegt", betonte Conte. Gleichzeitig werden die Ausgangsbeschränkungen verschärft: Sport im Freien wird verboten, der Aktionsradius der Bürger "auf das absolut unerlässliche Maß" reduziert.

Conte zeigte sich erschüttert über die hohe Zahl der Toten: "Der Tod von so vielen Mitbürgern ist ein Schmerz, der jeden Tag wiederauflebt. Wegen der Werte, mit denen wir groß geworden sind, wegen der Werte, die wir auch heute noch teilen, sind diese Toten nicht einfach Nummern", betonte der Premier. Man müsse leider damit rechnen, dass noch mehr Menschen sterben werden, erklärte Conte: Es werde noch etwas Zeit brauchen, bis die weitreichenden Maßnahmen, mit denen Italien seit vier Wochen versucht, die Ausbreitung des Virus einzudämmen, ihre volle Wirkung entfalten.

Die von Lega-Chef Matteo Salvini angeführte Opposition begrüßte die neuen Maßnahmen, kritisierte aber, dass "zu viel Zeit vergeudet wurde". Tatsächlich hatte Conte mit neuen Maßnahmen angesichts der möglichen Folgen für die Wirtschaft gezögert; der Entschluss zum Shutdown der Fabriken erfolgte erst, nachdem der Präsident der am schlimmsten betroffenen Region Lombardei, Attilio Fontana, am Samstag bereits ähnliche Maßnahmen verfügt hatte. Die Kritik der Lega am Zögern Contes wirkt freilich etwas billig: Als die Regierung Ende Februar die ersten Städte in Norditalien zur roten Zone erklärte und abriegelte, bezeichnete der Präsident der Region Venetien, Luca Zaia von der Lega, die Reaktion noch als maßlos überzogen und als Desaster für die Wirtschaft.

Tschechisches "Schutzmasken-Gate"

Dass es nicht weit her ist mit der Solidarität zwischen EU-Partnern, zeigt ein Zwischenfall, über den am Wochenende die Zeitung "La Repubblica" berichtete: 680.000 für Italien bestimmte und aus China angelieferte Schutzmasken sowie tausende Beatmungsgeräte seien vom polnischen und tschechischen Zoll einkassiert worden – sie kamen nie im Krisengebiet an. Zunächst behauptete Prag, man habe bloß gestohlene Ware konfisziert. Allerdings tauchten Fotos auf, die zeigten, dass die Masken in tschechischen Spitälern zum Einsatz kamen. Tschechien bemüht sich nun um Wiedergutmachung mit Rom und schickt vorerst 100.000 Masken. Außenminister Tomas Petricek räumte den Fehler am Sonntag ein. Dies sei nicht mit Absicht geschehen, sagte der Sozialdemokrat der Agentur CTK. Die Hilfslieferung wurde im Zuge einer größeren Razzia gegen Preiswucher in einem Lagerhaus im nordböhmischen Lovosice sichergestellt.

Höhepunkt soll "in Kürze" erreicht sein

Dass die Zahl der Toten in Italien trotz der bisher ergriffenen Massnahmen weiterhin steigt, erstaunt die Experten nicht: "Inzwischen weiß man, dass vom Zeitpunkt der Ansteckung bis zum Auftreten der ersten Symptome durchschnittlich etwa sechs Tage vergehen. Weitere fünf Tage dauert es, bis ein Patient auf das Virus getestet wird – und noch einmal durchschnittlich fünf Tage vergehen, bis die Infektion zum Tod führt", betont Carlo Signorelli, Dozent für Hygiene und öffentliche Gesundheit in Mailand. "Die knapp 800 Toten vom Samstag sind also das Resultat der Situation, wie sie vor 16 Tagen herrschte. Die Maßnahme der Regierung, zuerst die Lombardei und 14 Provinzen und danach das ganze Land unter Quarantäne zu stellen, sei aber erst vor zwei Wochen erfolgt. Signorelli ist deshalb zuversichtlich, dass die Maßnahmen in wenigen Tagen Wirkung zeigen und dass der Höhepunkt der Epidemie "in Kürze" erreicht sein werde.

Auch für die – gemessen an der Zahl der Infizierten – hohe Sterberate haben die Experten Erklärungen. In Italien überleben neun Prozent der Covid-19-Patienten die Infektion nicht, in der Lombardei sind es sogar zwölf Prozent, während die Sterberate in Wuhan laut WHO bei 5,8 Prozent und im übrigen China bei 0,7 Prozent lag. Der Hauptgrund liegt laut Signorelli in der Messmethode: In Italien werden nur noch Patienten mit schweren Symptomen auf das Virus getestet – also Personen, deren Sterbewahrscheinlichkeit um ein Vielfaches höher liegt als bei einem jungen, gesunden Menschen, der von seiner Infektion nichts ahnt. Ein weiterer Grund liegt im hohen Durchschnittsalter der italienischen Bevölkerung. Die Experten sind sich einig: Das Coronavirus ist in Italien nicht tödlicher als anderswo. (Dominik Straub aus Rom, 22.3.2020)