In Krisenzeiten wie diesen passieren viele Sachen, die man vorher nicht für möglich gehalten hätte. Beispielsweise erwischt man sich auf einmal dabei, wie man an den Lippen des Bundeskanzlers Sebastian Kurz hängt, jedes seiner Worte aufsaugt und seiner vertrauenserweckenden Erscheinung erliegt. Nach und nach erst besinnt man sich und merkt, dass man mit solchen Reaktionen aufpassen muss. Wenn nur die entsprechenden Rahmenbedingungen vorhanden sind, sehnen wir uns auf einmal alle nach dem Führer.

Auch anderes Merkwürdige geschieht, das in diese Richtung weist. Dies ist an der Art und Weise abzulesen, wie nun plötzlich von einigen von den "Alten" und "chronisch Kranken" gesprochen wird, die ja ohnehin bald sterben würden beziehungsweise gestorben wären. Es ist hier beobachtbar, dass auf einmal Leute, von denen man das nie gedacht hätte, haarscharf am nationalsozialistischen Gedankengut vorbeischrammen. Dass den meisten, die so reden – wie etwa kürzlich sogar Barbara Coudenhove-Kalergi in einer STANDARD-Kolumne –, diese problematischen Implikationen ihrer Statements gar nicht bewusst ist, ist kaum Anlass zur Beruhigung.

Die Natur erholt sich

Wenn man von bislang Undenkbarem, das nun Realität geworden ist, spricht, darf man jedoch das Positive nicht vergessen. Satellitenbilder dokumentieren den schlagartigen Rückgang der Luftverschmutzung über China, eine Folge der drastischen Maßnahmen gegen das Coronavirus, die die industriellen Aktivitäten einschränkten. Fotos von auf einmal glasklarem Wasser in den Kanälen Venedigs zirkulieren im Netz, ebenso wie die Nachricht, dass Malaysia die Palmölproduktion stoppen musste. Der globale Flugverkehr ist fast zum Erliegen gekommen. Es ist schier unglaublich: Das, was Natur- und Klimaschützer seit Jahrzehnten vergeblich verlangt haben, jene Maßnahmen, die immer abgeschmettert wurden, mit der Begründung, es handle sich um unerfüllbare Forderungen, das alles ist nun wie mit einem Handstreich Realität geworden, und noch viel mehr.

Das ist erstaunlich, weil es allem widerspricht, was für politisch machbar gehalten wurde. Wurden doch die Regierenden, mehr oder weniger bloße Handlanger des neoliberalen Mainstreams, nicht müde zu bekunden, dass sie gewillt seien, etwas gegen die Klimakatastrophe zu unternehmen, nur um gleichzeitig so zu tun, als seien ihnen alle Hände gebunden, denn man dürfe und könne ja nicht der Wirtschaft schaden. Aber auch manche Kritiker des Neoliberalismus, ich meine hier insbesondere diejenigen mit marxistischem Hintergrund, vertraten immer wieder die Auffassung, eine wirklich andere Politik sei nicht möglich, solange die gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnisse nicht radikal umgewälzt würden – das heißt, solange nicht der Kapitalismus abgeschafft würde.

In dieser Hinsicht waren sich die Wirtschaftsliberalen und ihre orthodoxen Linksaußen-Kritiker ja immer schon erstaunlich einig: Sie treffen sich im Glauben an die quasi naturgesetzliche Macht der Ökonomie und ihrer Sachzwänge. Auf die beruft man sich wie auf unhintergehbare göttliche Gewalten.

Auf einmal wird wieder Politik gemacht

Dass die Politik nun so auf das Coronavirus reagiert, wie sie reagiert, ist also in der Tat alles andere als selbstverständlich. Auch für mich selbst stellt es eine Überraschung dar.

Erinnern wir uns: Erst im vergangenen Winter gingen wahrhaft apokalyptische Bilder und Videos um die Welt von dem, was in Folge der Klimakrise in Australien geschah. Zehntausende Koalas verbrannten unter fürchterlichen Qualen bei lebendigem Leibe, mindestens eine halbe Milliarde Wildtiere kam ums Leben. Im Sommer 2019 standen weite Gebiete des Amazonasbeckens in Flammen.

War das für die Politiker ein Grund zu handeln? Anders gefragt: Wurden deswegen die Klimaziele ehrgeiziger sowie konsequenter formuliert und verfolgt als zuvor, wurden deswegen neue, drastischere Emissionsbeschränkungen als bisher beschlossen? Ganz im Gegenteil. Die Bereitschaft der Entscheidungsträger, daraufhin endlich Maßnahmen zu ergreifen, die den Interessen der globalisierten Wirtschaft, dem Handel und der Industrie zuwiderlaufen, hielt sich im Rahmen des geradezu Lächerlichen. Bis zum Jahr 2050 solle es Klimaneutralität geben, beschloss die EU-Kommission. Das wurde zu Recht von der prominentesten Klimaaktivistin, Greta Thunberg, scharf kritisiert.

In anderen Bereichen geht es nicht viel anders zu. Am Ende hat die Wirtschaft, haben wirtschaftliche Interessen immer den Vorrang. Man könnte als weiteres Beispiel den Waffenhandel nennen. Nicht nur, dass dergleichen nicht verboten wird, dieselben Nationen, die sich über die über sie hereinbrechenden Flüchtlingswellen beklagen, verdienen gleichzeitig kräftig an den Kriegen der Welt mit und halten sie dadurch am Leben. Immer wieder wird ja auch deswegen von Kritikern der herrschenden Politik vorgebracht, dass es eigentlich so etwas wie richtiges politisches Handeln gar nicht mehr gäbe, dass die Politiker nur mehr bloße Handlanger, Marionetten der Netzwerke der Wirtschaftsmächtigen wären, oder, wie es im Zusammenhang mit den USA heißt, des militärisch-industriellen Komplexes.

Absolut denkbar wäre es daher gewesen, dass die Politik auf das Coronavirus nicht anders reagiert. Dass man die Opfer hinnimmt, so wie man ja viele andere Kollateralschäden der Globalisierung auch in Kauf nimmt. Jedenfalls war es nicht unbedingt zu erwarten gewesen, dass man einer einzigen Viruserkrankung wegen die gesamte Weltwirtschaft derart lahmlegt, wie das jetzt der Fall ist. Das ist in der Tat etwas noch nie Dagewesenes. Wenn die Politikerelite ihre gewohnte Rhetorik ernst nehmen würde, die sie sonst in ähnlichen Situationen vorbringt, hätte sie dann nicht auch hier sagen müssen: Gesundheit gut und schön, aber wir dürfen die Wirtschaft nicht gefährden, es geht um Arbeitsplätze, wir dürfen unseren Standort nicht verlieren und so weiter? Wieso ist also hier auf einmal möglich, was bisher immer für unmöglich gegolten hat? Wieso können jetzt auf einmal Maßnahmen ergriffen werden, die alles übersteigen, was Thunberg je gefordert hat, und das nicht etwa erst mit Zieljahr 2050, sondern mit sofortiger Wirkung?

Die Vermutung liegt nahe, dass im Falle von Corona deswegen plötzlich vieles möglich ist, was bisher nicht möglich war, weil hier ein entscheidender Unterschied vorliegt. Hier sind nämlich nicht bloß irgendwelche weit entfernt in Busch und Halbwüste lebenden Koalas und Kängurus die unmittelbar Leidtragenden, auch nicht Bewohner exotischer Länder oder nur die Vertreter unterer sozialer Klassen und Randschichten. Auffallend viele Corona-Erkrankte sind ganz im Gegenteil Mitglieder der oberen sozialen Schichten, denen auch die politischen Entscheidungsträger angehören, Angehörige jener Eliten, die oft und gerne reisen und sich dabei das Virus eingefangen haben.

Eine andere Welt ist möglich

Doch aus welchen Motiven auch immer heraus diesmal Maßnahmen gesetzt wurden, es demonstriert etwas Erstaunliches: Wirkliches politisches Handeln ist möglich – auch gegen die angebliche Allmacht der Wirtschaft – wenn man nur will. Und man muss achtgeben auf die Schlussfolgerungen, die daraus für uns zu ziehen sind: All die Ausreden, mit denen man uns sonst bisher immer abserviert hat, wenn wir Veränderungen wollten, die müssen wir nun nicht mehr ernst nehmen. Wir wissen jetzt, es ist anderes möglich.

Zwar habe ich keine große Nähe zu Zahlen: Aber ich vermute, dass die Maßnahmen, die es zur Eindämmung der Klimakatastrophe bräuchte, für uns im Alltag nur einen winzigen Bruchteil jener Einschränkungen mit sich brächten, zu denen wir nun auf einmal ganz aus freien Stücken bereit sind. Nirgendwo hat Thunberg, haben andere Umweltaktivisten ein fast vollständiges Stilllegen der Wirtschaft gefordert, wie es sich nun ereignet.

Was hat man nicht immer gespottet über Natur- und Umweltschützer oder Veganer, was hat man sich nicht über den angeblich so gewaltigen Verzicht empört, den sie von einem verlangen, wie hat man ihnen nicht vorgeworfen und unterstellt, sie wollten, dass unsere Gesellschaft in die Steinzeit zurückkehrt. Schon als von wenigstens einem fleischfreien Tag in der Woche die Rede war, gingen die Wogen hoch, wollte man sich nichts verbieten lassen. Und doch ist all das, was Thunberg und Co gefordert haben, ein Nichts, eine Bagatelle, im Vergleich zu dem, wozu wir jetzt auf einmal – wenn auch nur vorübergehend – mehr oder weniger freiwillig bereit sind, weil vom Virus die Rede ist. Sollte uns das nicht zu denken geben und die Verhältnismäßigkeiten überdenken lassen?

Flugverkehr für das Klima einschränken? Corona hat das möglich gemacht.
Foto: REUTERS/Elijah Nouvelage

Dabei geht es jedoch um viel mehr als nur um die Klimakatastrophe. Die Verkürzung des Naturschutzthemas auf den menschengemachten Klimawandel, wie sie in den letzten Jahren gang und gäbe geworden ist, verdeckt, dass wir uns auch ohne diesen bereits im sechsten großen Massenaussterben der Erdgeschichte befänden und nur dann damit Schluss machen könnten, wenn wir zu einem grundsätzlichen Umbau unseres Wirtschaftssystems bereit wären. Ursächlich dafür sind Abholzung, Bodenversiegelung, Pestizide, Monokulturen, ausufernder Fleischkonsum, ein unersättlicher Bedarf an Bodenschätzen und, als Fundament von all dem, eine auf stupides Konkurrenzdenken, permanentes Wachstum und immer höher werdende Gewinnsteigerungen ausgerichtete Logik der Finanzmärkte, die wie eine gierige Maschine sich nach und nach alles auf dem Planeten Vorfindbare einverleiben und in Börsenkurse umwandeln.

Es geht daher, wie Thunberg es schon im Sommer vergangenen Jahres formulierte und wie es später bei der Klimakonferenz in Madrid im Dezember 2019 von Antonio Guterres, dem Generalsekretär der Vereinten Nationen, wiederholt wurde, um nichts weniger, als dass die Menschheit endlich einmal ihren fortwährenden "Krieg gegen die Natur" beendet.

Die Rede vom "Notwendigen"

Um Missverständnissen vorzubeugen, niemand wünscht sich, dass die Krise, so wie sie ist, länger dauert, selbst wenn das für die Natur gut wäre. Wünschenswert wäre aber ein Lernen aus Corona. Ein neues oder im Grunde altes, aber uns im Konsumwahn verloren gegangenes Verständnis von dem, was wirklich "notwendig" ist für uns Menschen und was nicht. Erstaunlich klarsichtig waren hier – freilich ohne dass er dabei gesellschaftsphilosophische Implikationen im Sinn hatte – die Äußerungen des Bundeskanzlers, als er eine ganz eindeutige Trennung vornahm zwischen jenen Zweigen des Geschäftslebens, deren Aufrechterhaltung nun unbedingt "notwendig" sei, und solchen, deren Aufrechterhaltung nicht unbedingt "notwendig" sei und darum für einige Wochen und vielleicht sogar Monate ausgesetzt werden könne und müsse.

Den meisten von uns ist diese Scheidung nachvollziehbar. Was so viel heißt wie: So sehr wir uns an vieles gewöhnt haben in Hinsicht auf Konsum in den vergangenen Jahrzehnten, gar nicht zu reden von denjenigen unter uns, die nie etwas anderes erfahren haben – intuitiv wissen es ja die meisten von uns nach wie vor, was wir grundlegend im Leben brauchen und was nicht. Gesundheit, Essen und Wohnen sind essentiell, kommt man auf einmal wieder darauf, kurz: eine gewisse Grundversorgung. Mehrmals im Jahr nach Thailand, Bali oder Amsterdam zu fliegen, ist hingegen vielleicht doch nicht so unbedingt notwendig. Anlässlich der Coronakrise steht also durchaus auch die von der postmodernen Philosophie hochmütig verkündete Aufhebung der Trennlinie zwischen dem Ursprünglichen, den Grundbedürfnissen, und dem Abgeleiteten, den sekundären, oft künstlich durch Werbung und Medien erzeugten Bedürfnissen zur Debatte. Man könnte außerdem bemerken, wie hier auf einmal eine Umwertung aller Werte stattfindet. Plötzlich sind der kleine Regalschlichter und die Supermarktkassiererin die großen Helden der politischen Rhetorik, berufliche Gruppen also, die üblicherweise als in der gesellschaftlichen Hierarchie sehr weit untenstehend wahrgenommen werden und deren Leistungen man ansonsten für selbstverständlich nimmt

Freilich gab es in den Reden von Kurz die Wendung vom "Notwendigen" auch in einem anderen Sinn: nämlich, als von den zwar schmerzhaften, aber "notwendigen" Maßnahmen die Rede war. Auch hier könnte man den Faden weiter spinnen: Ob nicht endlich einzusehen wäre, dass eben auch die Maßnahmen gegen die Klimakatastrophe "notwendig" sind, und allgemein so einige Schritte, die dem Erhalt der einmaligen Biosphäre des Planeten dienen würden, selbst wenn es für die Wirtschaft Einschränkungen bedeutet. Und hier könnte sich der Kanzler durchaus selbst an der Nase nehmen, ob er das so ganz verstanden hat.

Corona kratzt an den Wänden der Scheinwelt, in der wir leben

Im Zusammenhang mit der Coronakrise fand sich unter meinen Bekannten und Facebook-Freunden oft die Aussage, dass sich das, was da gerade geschehe, unwirklich anfühle, man fühle sich wie in einem Film, hieß es von mehreren Seiten, wie in einem Science-Fiction-Film. Das ist nachvollziehbar, auch ich empfinde ähnlich. Dieses Gefühl scheint mir aber eine Folge des irrigen Wirklichkeitsverständnisses zu sein, das sich seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs insbesondere in Mittel- und Westeuropa eingebürgert hat. Es handelt sich um ein Verständnis von "Normalität", das uns in Fleisch und Blut übergegangen ist.

Über die Medien bekommt man zwar vieles von grauenhaften, unfassbaren und oft unglaublichen Schicksalen mit, von elementaren Ereignissen, die Menschen den Boden unter den Füßen wegziehen. Aber das geschieht eben immer anderswo. In Syrien, in Afghanistan, in Somalia. Aber doch nicht bei uns. Damit will ich nicht etwa die alberne, leider üblich gewordene Phrase anstimmen, dass es hier in Österreich "uns ja allen gut gehe", und keineswegs will ich damit in Abrede stellen, dass auch hier in Österreich Menschen im Einzelfall etwas erleiden, das ihnen den Boden unter den Füßen wegzieht. Tatsächlich ist die Chronik des Boulevards oft voll mit extremen Vorfällen, die eigentlich Unvorstellbares enthalten und sich doch jeden Tag in Österreich ereignen. Das ändert aber nichts daran, dass in unserem kollektiven Bewusstsein eine Vorstellung von Welt gang und gäbe geworden ist, die in gewissem Sinne illusionär ist. Diesbezüglich leben wir ja wie unter einem Glassturz. Was wir hier in Mittel- und Westeuropa für das Leben halten, nämlich das „normale“ Leben“, das ist letztlich nur das besondere Privileg einer geographisch und zeitlich begrenzten wohlbehüteten Lebenswelt, wie sie sich hier seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs als Grundlage und Grundannahme eingespielt hat. Und alles, was anders ist, von dem haben wir den Eindruck, das ist "wie im Film", jenem Medium des Irrealen, Fiktiven schlechthin, oder eben "wie aus der Zeitung".

Corona ist da ein Einschlag, ganz gewiss. Es lässt etwas von den scheinbaren Gewissheiten, in denen wir eingebettet leben, abbröckeln. Das, was wir immer für so selbstverständlich nehmen, ist gar nicht selbstverständlich. Es ist lediglich eine konstruierte, eine extrem künstliche und teilweise eingebildete Wirklichkeit, in der wir existieren, und sie steht auf dünnen Beinen. Darunter ist das Bodenlose, das leere All. Diese Welt, die wir für die einzig wirkliche halten, kann es also von einem Augenblick auf den anderen genauso gut nicht mehr geben. Auch das sollte Anlass für uns sein, manches zu hinterfragen und beispielsweise über den Tellerrand unseres vom Todestrieb beseelten Wirtschaftssystems hinaus zu denken.

Nachbemerkung

Corona und Umweltzerstörung könnten noch um einiges mehr miteinander zu tun haben, als ich beim Verfassen dieses Beitrags dachte. Im März erschien, wie mir jetzt erst bekannt wurde, in der Zeitschrift "Le Monde diplomatique" der Artikel "Woher kommt das Coronavirus?" der Wissenschaftsjournalistin Sonia Shah, in dem sie darauf hinweist, dass die massive Vernichtung der natürlichen Lebensräume von Wildtieren einen wesentlicher Faktor für die Übertragung und Mutation von Erregern darstellt, mit denen der Mensch sonst nie in Kontakt gekommen wäre. Und ja: derartige Pandemien werden sich demnach also häufen, wenn wir unseren invasiven Umgang mit der Natur nicht überdenken. (Ortwin Rosner, 27.3.2020)

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