Wien/Jekaterinburg – Vor zwei Jahren noch verlor Ding Liren bei seinem ersten Kandidatenturnier in 14 Runden keine einzige Partie. Zwar gewann der Chinese, der inzwischen zur Nummer drei der Schach-Weltrangliste aufgestiegen ist, damals auch nur einmal. Aber spätestens mit diesem Ergebnis festigte der 27-Jährige seinen Ruf als extrem schwer zu schlagender Weltklassespieler. Von August 2017 bis November 2018 gelang ihm sogar eine Serie von hundert ungeschlagenen Partien gegen stärkste Konkurrenz.

Dings Fehlstart

Das alles gilt es zu bedenken, will man ermessen, wie enttäuschend Dings Start in das Jekaterinburger Kandidatenturnier verlief, bei dem Weltmeister Magnus Carlsens nächster Herausforderer ermittelt wird. Der als Co-Favorit geltende Ding begann nämlich mit zwei krachenden Niederlagen. In Runde eins verlor er mit Weiß in vielversprechender Stellung gegen seinen Landsmann Wang Hao völlig den Faden. In Runde zwei wurde er dann als Schwarzer vom Franzosen Maxime Vachier-Lagrave in einer gut erforschten Variante der Spanischen Partie gnadenlos zusammengeschoben, nachdem er ausgangs der Eröffnung durch einen schweren Fehler einen Bauern eingebüßt hatte.

Mit Schwierigkeiten gestartet: Ding Liren.
Foto: imago images/ITAR-TASS

Noch überraschender aber war, was Ding Liren nach diesem Alptraumstart in Runde drei ablieferte. Da musste der Chinese gegen den anderen Turnierfavoriten, den in der Weltrangliste unmittelbar vor ihm liegenden Fabiano Caruana antreten. Caruana notierte zu diesem Zeitpunkt nach einem Sieg über Wildcard-Inhaber Kirill Alekseenko bei 1,5 aus 2 und schien die schlechte Verfassung Dings nutzen zu wollen, um seinen Kontrahenten mit einer von langer Hand geplanten Eröffnungsgemeinheit endgültig auszuknocken.

In einer theoretisch eigentlich gut erforschten Variante der Slawischen Verteidigung brachte der mit Schwarz spielende US-Amerikaner ein giftiges doppeltes Bauernopfer. Obwohl er befürchten musste, genau in die Vorbereitung seines Gegners zu laufen, entschied Ding Liren sich dafür, das Danaergeschenk anzunehmen und sich die schwarze Kompensation erst einmal zeigen zu lassen. Caruana feuerte seinerseits Zug nach Zug heraus, ohne seine Bedenkzeitreserve anzutasten, während Dings Zeitguthaben bald bedrohlich zusammenschmolz.

Caruanas Hybris

Plötzlich aber schien Fabiano Caruana sich selbst überdribbelt zu haben. Hatte den Vizeweltmeister an irgendeinem Punkt sein Gedächtnis getäuscht? Oder hatte er sich zu sehr auf die Dramaturgie der Ereignisse verlassen, die auch allen Beobachtern nahezulegen schien, dass sein Gegner unter dem kombinierten Zeit-, Stellungs- und Psychodruck einfach zusammenbrechen musste, solange Caruana nur das Tempo hoch hielt?

Was auch immer es war, es tat beim Zuschauen weh. Nachdem Ding seine lange Zeit auf Abwegen verkehrende Dame mit den anderen Truppenteilen wiedervereint hatte, sah Caruanas heruntergeblitztes Doppelgambit plötzlich wie die Hybris eines Kaffeehaus-Patzers aus, der seinen Gegner aus dem Handgelenk vom Brett fegen will – bevor er feststellen muss, dass er sich unterwegs irgendwo veropfert hat. Ungewöhnlich lange verschleppte der Italoamerikaner in der Folge die inzwischen klar verlorene Stellung, bevor er tief frustriert die Waffen streckte.

Stimmungsmäßig zeigte Ding Liren sich nach diesem unwahrscheinlich anmutenden Triumph deutlich obenauf. Was den Zwischenstand betrifft, sind nach zwei weiteren gespielten Runden aber weder der Chinese noch Fabiano Caruana, bei dem seit der Niederlage merklich Sand im Getriebe ist, ganz vorne mit dabei.

Nepomnjaschtschis Chance

Den alleinigen ersten Platz darf seit Runde fünf stattdessen der Russe Jan Nepomnjaschtschi für sich beanspruchen. In Partei eins hatte der 29-Jährige Anish Giris gefürchtete Eröffnungsvorbereitung nicht nur neutralisiert, sondern sie gleich als Sprungbrett für einen beeindruckenden Schwarzsieg genutzt. Nach drei Remisen folgte dann am Sonntag der zweite volle Punkt gegen Chinas Wang Hao.

"Nepo" liegt damit aktuell einen halben Punkt vor dem zweitplatzierten Maxime Vachier-Lagrave, der in Runde vier eine gute Chance auf einen Sieg gegen Alexander Grischtschuk vergab, mit seinen drei aus fünf aber dennoch kaum unzufrieden sein wird. Bei noch neun zu spielenden Runden bedeutet dieser Zwischenstand freilich nur eine Momentaufnahme.

Reiseprobleme

Während die Chancen für einen planmäßigen Abschluss der Veranstaltung Tag für Tag zu steigen scheinen, hat sich mit Alexander Grischtschuk am Sonntag ein weiterer Spieler (neben Wang Hao sowie dem schon Wochen vor Beginn zurückgetretenen Teimur Radschabow) offen für einen Abbruch des Turniers aufgrund der Corona-Krise ausgesprochen: "Für mich ist es sehr schwierig. Ich möchte einfach nicht spielen, und ich möchte nicht hier sein", sagte der Russe nach seiner gestrigen Partie. "Es ist kein Zufall, dass alles andere gestoppt wurde. Wir sind das einzige große Sportereignis auf der Welt. Ich denke, es gehört gestoppt und verschoben."

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Zeitgemäß: Ian Nepomniachtchi Alexander Grischuk.
Foto: Reuters/Fide

Verbunden mit der unsicheren Weltlage plagt einige Spieler inzwischen noch eine andere konkrete Sorge: Die nicht-russischen Teilnehmer wissen nämlich nicht, ob und wie sie nach der letzten Runde am 3. April in ihre Heimatländer werden zurückkehren können. Immer mehr Staaten schließen ihre Grenzen für den Personenverkehr lückenlos, auch Passagierflüge gibt es bereits jetzt kaum mehr.

Dennoch hält der Weltschachbund zumindest vorerst ungerührt an seinen Plänen fest. Runde sechs des Kandidatenturniers beginnt deshalb am Montag um 12 Uhr MEZ. (Anatol Vitouch, 23.3.2020)