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Zeitungsverkäufer mit Maske in einer nahezu leeren Shoppingmall in Johannesburg.

Foto: AP Photo/Denis Farrel

Manchmal ist es von Vorteil, ständig der Nachzügler zu sein. Während Afrikas chinesische Freunde das Schlimmste bereits hinter sich haben und die alten europäischen Kolonialnationen momentan die geballte Wucht der Pandemie erfahren, genießt das globale Schlusslicht eine Galgenfrist: Aus dem südlich der Sahara gelegenen Erdteil wurden bislang mit gut 1.300 Covid-19-Fällen weniger als 0,5 Prozent aller Infizierten dieser Welt gemeldet. Dass es so bleiben wird, ist unwahrscheinlich. Aber jeder Tag, an dem die Zahl nicht in die Höhe schießt, ist ein gewonnener Tag.

Er verkürzt die Zeitspanne bis zur Entwicklung eines Impfstoffs und bringt neue Erkenntnisse über die Eigenschaften des Virus mit sich. Auf diese Weise wird die Aussicht erhöht, dass die Ansteckungskurve flacher als in Europa verläuft – die einzige Chance, einen Totalkollaps der dürftigen afrikanischen Gesundheitssysteme zu verhindern. Zahlreiche Regierungen des Kontinents haben außerdem bereits jetzt drakonische Maßnahmen wie Notstandsgesetze, Einreiseverbote oder Ausgangssperren erlassen, obwohl die Zahl der Infizierten in ihren Ländern meist noch zweistellig ist: Zu diesem Zeitpunkt dachte in Europa noch keiner über derart drastische Schritte nach.

Anders als in Europa löst die Einschränkung individueller Freiheiten in Afrika auch keine grundsätzlichen Debatten aus: Hier ist es selbstverständlich, Persönlichkeitsrechte dem Gemeinwohl zu opfern. Jüngst wurde in Südafrika eine Frau verhaftet, die sich trotz positiven Corona-Tests nicht in Isolation begeben wollte: Sie stellte sich als deutsche Staatsbürgerin heraus. Der Vorfall wurde in den sozialen Netzwerken mit Entsetzen quittiert.

"Nichtafrikanische" Erkrankung

Noch kursiert in Afrika die Auffassung, bei der Infektion könne es sich um eine "weiße" oder zumindest "nichtafrikanische" Erkrankung handeln. Auf dem sonnenverwöhnten Kontinent sei es dem Virus zu heiß, heißt es. Oder der Erreger möge die hiesigen Gene nicht. Der Irrglaube löst sich mit jedem neu gemeldeten Infektionsfall weiter im Nichts auf: In den nächsten 40 Tagen könnten sich in Südafrika eine Million Menschen angesteckt haben, rechneten Forscher der Johannesburger Witwatersrand-Universität aus.

Südafrikas Präsident Cyril Ramaphosa, dem während seiner zweijährigen Amtszeit oft mangelnde Entschlossenheit vorgeworfen wurde, scheint mit der Corona-Krise sein Profil gefunden zu haben: Er weiß, dass "die Existenz unserer Nation auf dem Spiel steht". Nachdem er vergangene Woche schon den Katastrophenzustand über das Kap verhängt hat, wird Ramaphosa am Montagabend vermutlich den Ausnahmezustand ausrufen, um die Vorschriften zum "sozialen Abstandhalten" noch verschärfen zu können.

Für eine Minderheit der Südafrikaner stellt ein Lockdown kein größeres Problem dar. Der wohlhabende Teil der Bevölkerung hat sich bereits in seine Villen zurückgezogen, wo er online mit seinem Büro verbunden ist, Netflix schaut und sich im Schwimmbad abkühlt. Dagegen fühlt sich ein Ausgangsverbot für die 14 Millionen Slumbewohner anders an: Sie haben keinen Internetzugang und leben mit bis zu acht Familienmitgliedern in zweiräumigen Blechhütten – wer kann ihnen zumuten, wochenlang in ihrer Hütte zu bleiben? Hinzu kommt, dass Vater oder Mutter höchstens in der "informellen Ökonomie", also ohne festen Arbeitsplatz, tätig sind: An jedem Tag, an dem sie nicht arbeiten, gibt es auch kein Geld. Die Pandemie mag zwar rassenblind sein. Klassenblind ist sie auf keinen Fall.

Gefühl der Zusammengehörigkeit

Diese Erkenntnis könnte für Südafrikas ungleiche Bevölkerung – es ist die ungleichste der Welt – weitreichende Folgen haben. Erstmals wird den Wohlhabenden ihre Verbundenheit mit der abgehängten Mehrheit wieder deutlich: Wenn es denen nicht gut geht, dann sind auch sie in Gefahr. Plötzlich kommt es wieder auf eine funktionierende öffentliche Gesundheitsversorgung an: Der immer größer werdende Abstand zwischen Reich und Arm erweist sich zunehmend als lebensgefährlich. Was der ANC in 25 Jahren Regierung nicht fertigbrachte, könnte das Coronavirus in wenigen Tagen schaffen: dass sich die Südafrikaner erstmals nach Nelson Mandela wieder als Gemeinschaft mit gemeinsamem Ziel – dem Sieg über den Erreger und seine verheerenden Auswirkung auf die Wirtschaft – sehen.

Dasselbe gelte für die Menschheit im Allgemeinen, meint der israelische Historiker Yuval Noah Harari: "Entweder wir gehen auf dem Pfad der Uneinigkeit weiter, oder wir finden den Weg globaler Solidarität." Das Virus hat den wiederaufgelebten Nationalismus, den angeblichen Kampf der Kulturen und America First zu klinischen Fällen gemacht: den einzigen Opfern der Pandemie, die keiner beklagen muss. (Johannes Dieterich aus Johannesburg, 23.3.2020)