Sozialpsychologe Arnd Florack empfiehlt: "Es sollten nicht nur Botschaften von Politikern kommen, sondern die Rolle von Wissenschaftern ist jetzt ganz wichtig."

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Das verordnete Social Distancing, das Abstandhalten, die Reduktion sozialer Kontakte, ist für Menschen, die schon früher alleine waren, eine große Belastung.

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Das Coronavirus greift tief in das Leben aller Menschen ein. Das "alte" Leben ist unweigerlich vorbei. Wie das neue aussehen wird, ist völlig offen. Jetzt ist Krisenmodus. In der Politik, für jedes Individuum, vor allem für das kollektive Wir. Was macht so ein Ausnahmezustand mit einer Gesellschaft, wenn das soziale Leben fast auf null heruntergedrosselt werden muss – auf unabsehbare Dauer? Was jetzt läuft, ist auch ein großes sozialpsychologisches Echtzeitexperiment.

STANDARD: Herr Florack, was sehen Sie als Sozialpsychologe jetzt in dieser Corona-Krise, wenn Sie auf die Gesellschaft schauen?

Florack: Wir haben eine Situation, in der sich etwas verändert hat, und die allgemeine Zuversicht, dass alles immer so weitergeht, wie es war, die zumindest in Westeuropa relativ groß war, ist heruntergegangen. Man weiß eben nicht, ob man morgen alles noch so machen kann wie heute. So eine Situation der Unsicherheit ist wie ein Stoppsignal. Man stoppt die täglichen Routinen, überlegt sich bei vielem, wie man sich zu verhalten hat, und noch wichtiger, man sucht nach Interpretationsmöglichkeiten für diese Situation. Diese Tendenz haben wir bei der Bedrohung durch ein Virus besonders stark, weil wir das Virus nicht sehen. Das macht die Situation schwerer.

STANDARD: Inwiefern?

Florack: Wenn ich etwas direkt beobachten kann, ist das einfacher. Kann ich das nicht, suche ich Interpretationsmöglichkeiten und schaue dann sehr stark darauf, was machen die Menschen in meiner Umgebung.

STANDARD: Sie kaufen zum Beispiel zwei Großpackungen WC-Papier ...

Florack: Genau. Der soziale Einfluss steigt. Nach dem Stoppsignal kommt man in einen Alarmzustand, auch physiologisch. Würde man jetzt die Schlafqualität der Menschen österreichweit messen, sähe man wahrscheinlich, dass sie schlechter geworden ist. Man wacht leichter auf, wenn man sich einer unbekannten Gefahr ausgesetzt sieht. Wir werden sehr sensitiv für jegliche Gefahreninformation. Darin liegt ein großes Risiko, weil auch viel falsche Information unterwegs ist, leider auch Fake-News. Das kann jetzt, wo es wichtig wäre, ruhiger zu werden, ich sage bewusst gelassener, fatal sein, weil sich Falschinformation schnell verbreitet und Reaktionen auslösen kann, die vollkommen unsinnig sind. Das haben wir ja bei den Hamsterkäufen beobachtet.

STANDARD: Sie haben auch die Klopapier-Hamsterer durch die Stadt laufen sehen?

Florack: Ich habe diese Hinweise am Freitagmorgen auch geschickt bekommen: "Geh jetzt einkaufen!" Wir haben darüber gesprochen, und ich habe gesagt: "Nein, ich weiß genau, die Lieferketten sind gesichert." Wenn etwas aus ist, wird das vielleicht drei Tage später wieder geliefert. Da habe ich auch gedacht: Na, das kann ja nicht sein, dass jetzt alle zum Supermarkt rennen. Aber genau das ist dann passiert.

STANDARD: Was hat es mit dieser Klopapier-Sache auf sich? Oder ist das eher eine Frage für die Profession der Psychoanalytiker?

Florack: Ich habe eine andere Erklärung. Das WC-Papier könnte man recht einfach durch Zeitungspapier ersetzen. Ist zwar nicht so angenehm, aber wenn man jetzt die Kriegsgeneration fragt, dann sagt die nicht: Das WC-Papier war das Wichtigste. (lacht) Wir haben Produkte, die manchmal sogar mehrmals am Tag nachgeliefert werden. Das ist nicht der Fall bei WC-Papier, weil die Leute das normalerweise nicht wie Milch täglich kaufen. Es macht überhaupt keinen Sinn, dass Supermärkte wahnsinnig viel WC-Papier lagern. Wenn bei solchen Produkten einer anfängt – vielleicht durchaus wohlüberlegt, weil er mal zwei Wochen zu Hause bleiben muss –, dann fehlen zwei Packungen. Ein anderer sieht das, nimmt auch zwei Packungen mit. Das sehen weitere Personen, und dann gibt es einen Schneeballeffekt, weil man das Verhalten imitiert.

STANDARD: Wie kann die Politik in so einer prekären Situation Hysterie verhindern?

Florack: Wichtig ist, dass man sehr gut und sachlich erklärt, und das immer wieder. Und: Es sollten nicht nur Botschaften von Politikern kommen, sondern die Rolle von Wissenschaftern ist jetzt ganz wichtig. Sie können ein zentraler Teil einer Bewältigungsstrategie sein, mit diesen vielen Nachrichten klarzukommen. Die wissenschaftliche Sachlichkeit reduziert die Aufregung. Wir schauen dann mit etwas mehr Abstand auf die aktuellen Entwicklungen.

STANDARD:Die Corona-Krisenkommunikation in Österreich läuft primär über ein paar Regierungspolitiker, während in Deutschland auch systematisch Experten aus der Scientific Community auftreten. Das Robert-Koch-Institut macht alle zwei Tage ein Corona-Briefing, das jeder live ansehen kann. Der Virologe Christian Drosten von der Charité in Berlin spricht jeden Tag in einem Podcast im NDR-Radio. Wäre es sinnvoll, auch hierzulande Wissenschafter als systematische Informanten der Öffentlichkeit zu etablieren?

Florack: In diesem Fall ist es sehr wichtig, dass die Politiker Entscheidungen treffen, sie klar kommunizieren und auch deutlich machen, dass sie auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basieren. Aber die Erklärungsrolle sollten Wissenschafter übernehmen. Sie können und sollen auch sagen, wo Nichtwissen besteht. Bei Politikern schwingt natürlich immer auch der Gedanke mit: Was sind die Ziele dahinter? Kann es nicht ein Ziel sein, dass ein Politiker sehr häufig auftritt, um sich zu profilieren?

STANDARD: Wie lang kann eine moderne Gesellschaft, die so dynamisiert ist wie unsere, denn so einen radikalen "Social Distancing"-Zustand "aushalten"?

Florack: Wir müssen uns auf einen längeren Zeitraum einstellen. Ich sehe bei der wirtschaftlichen Entwicklung die größte Gefahr, also dass an die Corona-Krise eine andere Krise anschließt, in der Menschen wieder irrational handeln. Bei den Hamsterkäufen haben wir gesehen, wie aus irrationalem Verhalten Realität entsteht. Das ist eine selbsterfüllende Prophezeiung: Alle gehen einkaufen, dann ist nichts mehr da, und alle, die eingekauft haben, sagen: Ich hab’s ja gesagt! Ähnliches kann an den Börsen passieren. Schon jetzt verlieren Menschen ihre Arbeitsplätze. Darum muss man überlegen, wie man verhindern kann, dass aus der Corona- eine Wirtschaftskrise wird.

STANDARD: Mit sehr persönlichen Folgen.

Florack: Ja, die Maßnahmen des Social Distancing treffen ja vor allem Personen hart, die sowieso schon alleine sind, für die das tägliche Hinausgehen sehr wichtig war. Wir beobachten auch – durchaus verständlich, wenn eine Gesellschaft im Alarmzustand ist –, dass die Menschen in so einer Krise konservativer werden. Sie machen Grenzen zu. Etwa nationale Grenzen, das sehen wir auch in Europa. Wir beobachten auch, dass sich die Menschen insgesamt stärker auf das eigene Wertesystem und die eigene Kultur fokussieren und versuchen, beides zu verstärken. In der Sozialpsychologie gibt es Befunde, dass Menschen gerade in Situationen, in denen ihnen die eigene Sterblichkeit oder Bedrohung vor Augen geführt wird, Angstpuffer aufbauen, Systeme, mit denen sie sich schützen möchten. Wir nützen Elemente unserer Kultur, an denen wir uns festhalten, die auch Sinn geben. Man zieht sich zurück.

STANDARD:Werden wir durch diese Corona-Krise, in der so viel an Solidarität appelliert wird, also letztlich dann doch wieder egoistischer und selbstbezogener, wenn sich das Ganze über eine längere Zeit hinzieht?

Florack: Man wird kleinräumiger denken und bei der Familie anfangen, klar, aber das soziale System im direkten Umfeld wird bleiben und auch Sinn stiften. Wenn Sie Ihrer Nachbarin etwas mitbringen und das funktioniert, ist das ein kleiner positiver Impuls. Diese kleinen sozialen Systeme, die in Städten zwar etwas schwerer zu etablieren sind, sind wichtiger denn je.

STANDARD: Haben Sie einen Tipp für den Alltag, wie man am besten durch die nächsten Wochen und Monate kommt?

Florack: Das eine ist, wie kommt man mit der eigenen Familie klar. Ich habe zwei Kinder, die muss ich zwischendurch auch anregen, dass sie nicht nur vor dem Handy hängen. Wir haben uns auf einen Plan geeinigt, was wann gemacht wird. Dass sie um 10 Uhr etwas für die Schule machen sollen. Sie wissen aber auch, wann sie Freizeit haben. Wichtig ist, dass man trotz der aktuellen Situation eine Struktur hat und nicht jeden Tag alles neu ausverhandeln muss. Viele Menschen, die jetzt Heimarbeit machen, müssen ja viele Dinge gleichzeitig tun. Kinder versorgen, kochen, Haushalt, das macht das Arbeitsleben nicht leichter. Also: klare Struktur, klare Pläne, aber auch klare Pausen – auch von der Information. Auch die sollte man dosieren. Durchaus mal das Internet zwei Stunden abschalten und dann schauen, gibt es wirklich große Neuigkeiten, und sich wieder fokussieren, weil sonst kommt man da nicht mehr heraus. (Lisa Nimmervoll, 24.3.2020)