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In der Hängematte liegen, dabei aber neue Beziehungen zu seiner Umwelt knüpfen: Leben in Brooklyn während des Shutdowns.

Foto: Reuters

Das Leben in Moskau, sagte der russische Regisseur Kirill Serebrennikow unlängst in Deutschlandfunk Kultur, sei zuletzt noch chaotischer als in Berlin verlaufen. "Wir wurden dauernd von irgendwelchen Leuten rausgerissen: Anrufe, SMS-Mitteilungen, Telegramm, Instagram, Facebook und so weiter." Diese Form der Dauerberieselung empfand er als systemische Last. Viele von uns kennen dieses Gefühl: Vernetztsein ist Teil unseres "way of life". Entsprechend schwer ist es, sich dem Sog des Digitalen zu entziehen.

Serebrennikow hat die Unterbrechung, die wir durch die Einschränkungen seit der Corona-Krise erleben, schon davor als Zwangsmaßnahme eines autokratischen Staates erlebt. Mehrere Monate stand der regimekritische Regisseur unter Hausarrest. Serebrennikow hat die Isolation jedoch zu nützen verstanden: Er durchbrach die lästigen Routinen, um seine Konzentrationsfähigkeit neu zu kalibrieren. Endlich hatte er Zeit, lange Schmöker der Weltliteratur zu lesen, Tagebücher zu schreiben, ja, eine neue Sprache zu lernen.

Kein Detox-Programm

Keine Sorge, hier soll die Verunsicherung, die wir alle gerade durch Covid-19 erfahren, nicht als Detox-Gelegenheit schöngeredet werden. Dennoch kann man sich bei aller Unklarheit darüber, wie die nächsten Wochen, ja sogar Monate aussehen werden, auch die Frage stellen, ob die Unterbrechung gewohnter Abläufe nicht auch neue Sensibilitäten ermöglicht und andere Zonen für Begegnungen schafft.

Stand auf Obamas Bestenliste: Jenny Odells Buch "How To Do Nothing".

Angesichts der pfeilschnell über uns gekommenen Realität von Homeschooling, Online-Unis und Remote-Konferenzen ist bereits von einer Neubewertung des Internets die Rede. Da steht vor allem die Frage der Produktivität im Zentrum. Mit demselben Recht könnte man seine Aufmerksamkeit aber nun auf jene Praktiken richten, die zuletzt eher als Makulatur erschienen sind: Wann haben wir zuletzt einen Spaziergang im Grünen mit derselben Lust absolviert?

Während einer Pandemie, die uns mit dem vorübergehenden Stillstand des Lebens wie in einem Science-Fiction-Film konfrontiert – wer erinnert sich noch an The Quiet Earth? –, sollte man vielleicht nicht sofort wieder in Kategorien des Nutzens zurückfallen. Zumal vielen Betroffenen die Möglichkeiten von Remote-Arbeit ohnehin verschlossen sind.

Die US-Autorin und Künstlerin Jenny Odell hat bereits 2019 ein Buch mit dem leicht irreführenden Titel How To Do Nothing geschrieben, das es auch auf Barack Obamas Bestenliste des Jahres schaffte. Es handelt sich um keinen Lebensratgeber fürs "dolce far niente", sondern um einen zwischen Kulturkritik, Sozialgeschichte und Kunstbetrachtung mäandernden Essay. Im Zentrum steht die Frage, wie man sich jener Aufmerksamkeitsökonomie entziehen kann, die vor allem von gewinngesteuerten sozialen Medien verkörpert wird.

Wider die Produktivität

Odell geht es um keine radikale Abkehr, sondern um die Frage, wie wir unsere Aufmerksamkeit zurückgewinnen können. Sie sucht nach einer Position, von der aus sich die Welt (inklusive jener des Internets) neu erobern lässt. Die entscheidende Veränderung liegt in der Verweigerung der Idee von Produktivität. Odell hat zahlreiche historische Beispiele parat: Thoreau, Diogenes, den Fass-Bewohner, oder Bartleby, den Schreiber aus Herman Melvilles berühmter Erzählung.

Dessen störrische Antwort "Ich möchte lieber nicht" steht allerdings erst am Beginn einer umfassenderen Umorientierung. Denn das Ziel muss sein, die Wahrnehmung auf seine nähere Umwelt neu auszurichten. Odell verortet eine Krise des Denkens, eine allgegenwärtige Dekontextualisierung von Informationen, die Hand in Hand mit einer "Verödung" der Ressourcen der Natur geht.

Ein Rosengarten ist für sie das erste, zu einem gewissen Grad auch symbolische Beispiel einer Oase des Müßiggangs, in der den algorithmusgesteuerten Spiralen der Zerstreuung, des Neids und der Angst Einhalt geboten werden kann. Anstatt auf Wachstum und Progression richtet sich Odell auf das Zyklische und Regenerative aus. Auf eine Lebenswelt, in der sich mit Konzentration "bioregionale" Interdependenzen entdecken lassen.

Verweigerung statt Flucht

Wem das zu sehr nach modernem Hippietum klingt, dem sei gesagt, dass Odells Fokus eine politische Dimension in sich birgt. Die Aufmerksamkeitsökonomie hält uns in einer endlosen Gegenwart gefangen, die unsere Vorstellung lähmt, dass es auch anders geht. Deshalb sei es so wichtig, einen Schritt heraus zu tun: Die Lust, allem einfach den Rücken zu kehren, müsse zu einem Bekenntnis der Verweigerung reifen. Und allmählich zu einem Ort wachsen, wo man auch anderen begegnet.

Die Maßnahmen der Corona-Krise wurden schon öfters als Zwangspause für eine überreizte Gesellschaft gelesen, aus der diese am Ende möglicherweise verändert hervorgeht. Für solche Prognosen ist es zu früh. Doch Odells Plädoyer für eine Teilhabe, die sich ein Stück abseits versteht, klingt gerade sehr aktuell. Genauso wie ihr Eintreten für Fürsorge, ein wieder geschärftes, aktiveres Zuhören sowie die Idee von Instandhaltung und Pflege. Tugenden, die wir vielleicht auch nach der Krise umarmen sollten. (Dominik Kamalzadeh, 24.3.2020)