Am Beispiel der Schutzmasken demaskiert sich das einige Europa auf gruselige Weise. Die "europäische Solidarität", die in politischen Sonntagsreden ständig strapaziert wird, gibt es nicht. Nicht unter den EU-Mitgliedsstaaten. Jede nationale Regierung schaut zuallererst auf sich und ihre Umfragewerte.

Wie sonst lässt sich erklären, dass es keine gemeinsame europäische Vorgehensweise im Kampf gegen das Coronavirus gibt? Es gibt 27 unterschiedliche Strategien für Grenzschließungen, Ausgangsbeschränkungen, Schutzmaßnahmen, Testungen, Maskierungspflicht und Schutzabstände. Wie lange Schulen, Universitäten und Behörden geschlossen bleiben, macht sich jedes Land mit sich selbst aus. An den Grenzen gab man gar unlustige Revanche-Spielchen: Schließt du die Grenzen, lass ich die von dir dringend benötigten 24-Stunden-Betreuerinnen nicht durch. Und was auch immer die (Hinter-)Gründe dafür sind: In einer Notlage Schutzmasken und Beatmungsgeräte für ein befreundetes Land zurückzuhalten geht gar nicht. Polen und Tschechien machen diesbezüglich gerade negativ Furore – aber auch an der österreichisch-deutschen Grenze gab es Reibereien. Deutschland hatte vorübergehend die Ausfuhr von Schutzmasken untersagt, während sie hierzulande bereits dringend gebraucht wurden.

Schutzmasken werden in Österreich dringend gebraucht.
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In diesem Fall erscheint Österreich als Opfer mangelnder europäischer Solidarität – ob dies allerdings eine Tiroler Vorgeschichte hat, wird sich in den kommenden Wochen zeigen. Manche Kritiker der Tiroler Vorgehensweise vermuten, dass in diesem "dem Tourismus geschuldeten Sozialbiotop" (so der Politikberater Peter Plaikner im STANDARD) die Corona-Bedrohung mit Anlauf ignoriert wurde. Sollte Tirol hier als Drehscheibe der Virusverbreitung fungiert haben, muss man sich über das Angefressensein der europäischen Partner nicht weiter verwundern.

Lähmung der Gemeinschaft

Es rächt sich jetzt akut, dass die Europäische Union wichtige Lebensbereiche wie das Gesundheitswesen den Mitgliedsländern überlassen hat. Es gibt keine verbindliche Handlungsanleitung für eine gemeinsame Vorgehensweise in einem solchen Megakrisenfall. Das gemeinsame Monitoring-Warnsystem ECDC zerschellte möglicherweise an der Ignoranz der Gewarnten, und der Wildwuchs an unterschiedlichen Testungen erschwert die Erhebung der tatsächlichen Infektionszahlen.

Die Lähmung der Gemeinschaft in der schwersten Krise des Kontinents seit dem Zweiten Weltkrieg ruft natürlich sofort die EU-Gegner auf den Plan. In Österreich treibt das vor allem FPÖ-Funktionäre um, die jetzt posten, "wir" müssten nun vor allem auf uns selbst schauen. Das war zu erwarten.

In Ungarn zieht Viktor Orbán derweilen ganz andere Saiten auf. Für Ungarns Weg in die (vorübergehende?) Diktatur findet die EU-Spitze auch nur lauwarme Worte und zeigt damit ihr Unvermögen, als einhellige Wertegemeinschaft aufzutreten.

Nur eines wird gerade klar: Aus der Flüchtlingskrise 2015 haben die EU-Mitgliedsländer nichts gelernt. Schon damals lautete die Devise: Jeder ist sich selbst der Nächste. Dieser nationale Egoismus hat vor allem den beschleunigten Aufstieg rechtsextremer Parteien gebracht. Wenn aus der jetzigen Krise wieder nicht die richtigen Schlüsse gezogen werden, kann man sich die Zukunft dieser Gemeinschaft lebhaft ausmalen. (Petra Stuiber, 23.3.2020)