Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert ging Wissenschaft davon aus, dass spezielle Signalwege nur Wärme- oder nur Kältereize von der Haut zum Gehirn weiterleiten. Obwohl beim Menschen und bei Primaten einiges dafür sprach, konnte kein stichhaltiger Nachweis dafür erbracht werden. Nun aber hat ein Team aus Neurowissenschafter am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC) in Berlin hat eine überraschende und widersprüchliche Entdeckung zum Wärmeempfinden von Mäusen gemacht: Offenbar spielen die Kälterezeptoren in der Haut beim Wärmeempfinden eine entscheidende Rolle.

Die in der Fachzeitschrift "Neuron" veröffentlichten Erkenntnisse stellen das vorherrschende Bild über die Wahrnehmung nicht schmerzhafter Temperaturen in Frage und liefern Hinweise darauf, wie nicht nur Mäuse, sondern auch der Mensch Wärme bewusst wahrnehmen. "Wenn wir eine Tasse Kaffee mit den Händen greifen und augenblicklich deren Wärme spüren, geschieht dies nicht nur unter Beteiligung von Nervenzellen, die durch Wärme aktiviert werden, sondern auch durch solche, die durch Wärme deaktiviert werden", berichtet Ricardo Paricio-Montesinos, Koerstautor und Neurowissenschafter am MDC. "Ohne diesen zweiten Nervenzellentyp würden wir entweder viel länger brauchen, bis wir die Wärme spüren, oder wir würden die Wärme überhaupt nicht wahrnehmen. Das haben unsere Daten aus Versuchen mit Mäusen ergeben."

Mäuse, aufgenommen mit einer Infrarotkamera, mit warmen Futterstücken.
Foto: Lewin Lab, MDC

Ähnlichkeiten zwischen Mensch und Maus

Die Fähigkeit von Mäusen, leichte Temperaturveränderungen wahrzunehmen, war bisher nicht näher untersucht worden. Durch eine Reihe von Verhaltensstudien entdeckten die Forscher, dass die Fähigkeit, Temperaturveränderungen wahrzunehmen, bei Mäusen genauso gut entwickelt ist wie beim Menschen. So begannen die Mäuse bei einer Erwärmung um ein Grad Celsius und bei einer Abkühlung um 0,5 Grad Celsius an einem Wasserspender zu lecken. "Erstmals konnten wir beweisen, dass Mäuse Wärme und Kälte grundsätzlich genauso wahrnehmen wie wir", berichtet Gary Lewin vom MDC. "Die Schwellenwerte sind mit denen des Menschen identisch."

Auch als neuronale Signalwege blockiert wurden, bei denen man davon ausging, dass sie mit dem Wärmeempfinden in Verbindung stehen, begannen die Mäuse bei einer Temperaturerhöhung um zwei Grad Celsius am Wasserspender zu lecken. Die Wahrnehmung war also reduziert, aber nicht völlig ausgeschaltet. Daraus lässt sich schließen, dass diese Signalwege für das Wärmeempfinden zwar hilfreich, aber nicht zwingend erforderlich sind. Als die mit Abkühlung assoziierten Signalwege durch Ausschalten des Gens trmp8 blockiert wurden, konnten die Mäuse hingegen überhaupt keine Wärme wahrnehmen.

Überraschende Entdeckung

"Wir waren völlig überrascht", berichtete Frederick Schwaller, Koerstautor und Postdoktorand in der Forschungsgruppe Lewin. "Wir hatten die Mäuse eigentlich auf das Wahrnehmen von Hauterwärmung trainiert, um auf diese Weise Kontrollwerte zu erhalten. Doch dann sind wir damit zufällig auf die wichtigste Erkenntnis der Studie gestoßen." Bei näherer Analyse der Nervenzellen in der Vorderpfote konnten die Forscher zwei Dinge beobachten: Erstens gab es keine Nervenzellen, die ausschließlich auf Erwärmung reagierten. Stattdessen sendeten die meisten Nervenzellen ein elektrisches Signal infolge von Temperatur- und stumpfen Druckreizen.

"Das war einfach verblüffend", sagt Lewin. "Woran erkennt dann das Nervensystem, ob die Nervenzelle durch Wärme, Kälte oder mechanischer Einwirkung aktiviert wurde?" Die Antwort liegt in der zweiten Entdeckung, die das Team gemacht hat: einer Gruppe von Nervenzellen, die bei einer Normaltemperatur in der Vorderpfote von 27 Grad Celsius ständig Signale sendet. Wenn die Temperatur steigt, fahren diese Zellen ihre Aktivität herunter. Und genau hier liegt der Schlüssel zur Antwort.

Der Vergleich führt zur Wahrnehmung

Das Team geht davon aus, dass die Maus Wärme erkennen kann, weil eine Gruppe von Nervenzellen ihre Aktivität erhöht, während die Nervenzellen für Kälte ihre Aktivität verringern. Zwei Signale in entgegengesetzter Richtung erzeugen ein Muster, das dem Gehirn "Wärme" vermittelt. Anders ist es bei einer Abkühlung: Hier ist die Aktivität bei allen Nervenzellen erhöht, sodass ein gleich gerichtetes Muster entsteht. "Durch den Einsatz zweier Gruppen von Nervenzellen kann die Maus viel leichter eindeutig feststellen, ob die Temperatur steigt oder sinkt", sagte Lewin.

Als die Signalwege für Abkühlung blockiert wurden, blieben die Kältezellen still und sendeten keine Signale an das Gehirn. Aufgrund des nun ausbleibenden entgegengesetzten Signalmusters konnten die Mäuse keine Wärme wahrnehmen, so die Schlussfolgerung der Forscher. Die Wissenschafter gehen davon aus, dass die Sinneswahrnehmung der Maus Rückschlüsse auf den Menschen zulassen. Schließlich verfügen wir über dieselben Rezeptoren und Nerven, die Informationen von der Haut zum Rückenmark und zum Gehirn weiterleiten. Um ein identisches Muster beim Menschen nachzuweisen und herauszufinden, wo und ob die Signale im Gehirn oder Rückenmark verglichen werden, sind jedoch weitere Studien erforderlich. (red, 24.3.2020)