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In den Rolex-Werken der Schweiz stehen die Maschinen still. Noch bis mindestens Ende der Woche wurden die Mitarbeiter nach Hause geschickt. Es ist eine Maßnahme gegen die Verbreitung von Corona. Hublot hat seine Fabriken ebenfalls vorübergehend geschlossen. Und auch die Swatch Group macht zum Schutz ihrer Mitarbeiter Teile ihrer Produktion in der Schweiz für Tage dicht. Rolex, Swatch, Hublot – die Markenzeichen des Landes schicken ihre Mitarbeiter in Kurzarbeit. Dass das Virus auch die Schweizer Uhrmacher so hart trifft, ist ein Zeichen für die Tragweite der Krise in der sonst so krisenfesten Schweiz.

Mit Montag vermeldete das 8,5 Millionen Einwohner zählende Land 8.060 bestätigte Covid-19-Infektionen, 66 Menschen sind bis dahin im Zusammenhang mit dem Virus gestorben. Innerhalb eines Tages kamen 1.046 Infizierte hinzu. Gemessen an der Einwohnerzahl weist nur Italien weltweit eine höhere Zahl an Infektionen auf. Österreich liegt auf Platz vier, aber weit dahinter.

Schweiz will Ausgangssperre vermeiden

Damit ist das Land, gemessen an der Einwohnerzahl, eines der am schlimmsten betroffenen Länder Europas. Die Maßnahmen, die die Schweizer Regierung ergreift, bleiben aber relativ moderat. "Wir veranstalten keine Spektakelpolitik", sagte Innenminister Alain Berset Ende vergangener Woche, als er neue Maßnahmen verkündete: Sämtliche Zusammenkünfte mit über fünf Personen würden verboten. Bereits wenige Tage zuvor wurden Schulen, Bars und Geschäfte außer Supermärkte und Apotheken geschlossen. Veranstaltungen sind verboten, Spielplätze bleiben aber offen. Größere Partys sind untersagt, ein privater Fondue-Abend aber erlaubt. Man setzt massiv auf Tests, von denen 6000 am Tag durchgeführt werden können. Insgesamt gilt: Eine Ausgangssperre soll vermieden werden. Die Regierung setzt auf die Freiwilligkeit und Vernunft der Bürger.

Diese Politik ist im Land nicht unumstritten. Die Schweiz ist ein touristischer Knotenpunkt, aber auch ein globales Wirtschaftszentrum. Viele Unternehmen sind außerdem auf sogenannte Grenzgänger angewiesen. Und das wird dem Land in der Corona-Krise nun zum Verhängnis.

Wenn die Uhrenwerke ihre Produktionsstätten schließen, dann begründet das der Swatch-CEO Nick Hayek etwa auch damit, dass die Grenzgänger aus Frankreich und Italien nur noch schwer oder gar nicht zu ihren Arbeitsplätzen in der Schweiz gelangen könnten. Doch vieles deutet darauf hin, dass vor allem sie das Virus sich überhaupt so schnell im Land verbreiten ließen.

Das Virus kam über das Tessin ins Land

Der Problemkanton in der Schweiz ist das Tessin, das an drei Seiten von der italienischen Lombardei umschlossen wird. Die Lombardei ist ja Europas Corona-Hotspot. Täglich überqueren in normalen Zeiten fast 70.000 Italiener die Grenze zum Tessin. So war es genau vor einem Monat, am 25. Februar, auch ein 70-Jähriger im Tessin, bei dem das Virus erstmalig in der Schweiz festgestellt wurde. Laut Berichten war er zuvor in Mailand gewesen. Gröbere Maßnahmen wurden nicht ergriffen, Innenminister Berset sagte damals, dass das Land gut vorbereitet sei. Es handle sich um einen "Einzelfall", sagte auch Daniel Koch, Leiter der Abteilung übertragbare Krankheiten im Schweizer Bundesamt für Gesundheit (BAG), es bestehe "keinerlei Gefahr".

In den darauffolgenden Tagen vermeldeten immer mehr Kantone Ansteckungen; die meisten der Betroffenen waren zuvor in Italien. Zwei Wochen später verzeichnete die Schweiz eine Neuansteckungsrate von über 50 Prozent am Tag. Etwa ein Fünftel der Fälle waren im Tessin.

Kleine Grenzübergänge geschlossen

Erst am 11. März wurden neun kleinere Grenzübergänge zwischen dem Tessin und Italien geschlossen. Grenzgänger, die in der Schweiz arbeiten, durften aber weiter einreisen. Das Dilemma: Im Tessin arbeiten im Gesundheitswesen fast 4.000 Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegepersonal aus Italien. Auf diese kann man besonders in der aktuellen Situation kaum verzichten. Einige Betriebe haben Unterkünfte im Tessin ihren Pendlern angeboten, damit sie nicht in Italien übernachten müssen.

Etwa zur gleichen Zeit führte die Schweiz Stichproben an den Grenzen zu Italien ein – in den Kantonen Wallis, Tessin und Graubünden. Wer nicht unbedingt (etwa zum Arbeiten) in die Schweiz musste, dem wurde geraten umzukehren. Bindende Grenzschließungen wurden aber nicht verhängt.

Die Ansteckungsrate pro 100.000 Einwohner, aufgeteilt auf die Kantone, zeigt auch jetzt ein deutliches Bild: Die Kantone Tessin (326,9), Wallis (128,2) und Graubünden (133,6) weisen eine deutliche höhere Ansteckungsrate auf als die Gesamtschweiz (85). Gleichzeitig finden sich aber ähnlich hohe Zahlen auch im an Frankreich grenzenden Waadt (235,3) und im Norden des Landes, in Basel-Stadt (222,8).

Skigebiete in der Schweiz

Eine andere Frage ist, inwiefern die zahlreichen Schweizer Skigebiete zur Verbreitung des Virus beigetragen haben. Geschlossen wurden sie am 13. März – kurz nachdem in Österreich der Schritt gesetzt wurde. In Tirol liegt der Fall Ischgl ja nun bei der Staatsanwaltschaft; inwiefern es zu ähnlichen Versäumnissen in der Schweiz gekommen ist, ist noch nicht aufgearbeitet.

"Das Ausbruchsgeschehen, das wir im Moment haben, hat viel zu tun mit den Rückkehrern aus dem Skiurlaub. Südtirol, Österreich, Schweiz", sagte der deutsche Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) vergangene Woche. Orte in der Schweiz nannte er nicht.

Die Daten zeigen aber: Ein Brandherd in der Schweiz ist der Skiort Verbier im Kanton Wallis. Dort haben Ärzte Alarm geschlagen, weil sie in dem Tal einen Herd vermuten. Ärzte fordern seit Tagen, das gesamte Tal unter Quarantäne zu stellen. Es gebe zu viel "Kommen und Gehen", vor allem von Arbeitern, fügte eine Ärztin aber hinzu. Der Bund beschloss in Absprache mit dem Kanton am Dienstag, das nicht zu tun. Begründung: Die bereits verordneten Maßnahmen würden ausreichen. Polizeikontrollen werden verstärkt, um zu kontrollieren, dass das Verbot von Ansammlungen von mehr als fünf Personen eingehalten werde und Hotels und Baustellen die Hygienevorschriften befolgen.

Streit zwischen Kantonen und Bund

Der Fall Verbier zeigt ein weiteres Problem in der Schweiz auf, und zwar eine ungeklärte Kompetenzaufteilung zwischen Kantonen und Bund. Erst nach tagelangem Hin und Her hat man im Wallis eine Entscheidung über Verbier getroffen. Das Tessin wiederum ging schon vor Tagen seinen eigenen Weg. Und das könnte dem Kanton nun zum Verhängnis werden.

Im Alleingang hat die Tessiner Verwaltung Baustellen und Industriebetriebe geschlossen. Die Bundesregierung hat nun allen betroffenen Unternehmen signalisiert, dass sie das anfechten könnten – weil eine derartige Schließung alleine Bundeskompetenz sei. Betroffene Betriebe könnten sich gegen diese Schließungen zur Wehr setzen, erklärte Martin Dumermuth, Direktor des Bundesamts für Justiz, am Montag.

Schweiz greift tief in die Taschen

Insgesamt hat die Schweizer Regierung bisher ein Hilfspaket von an die 40 Milliarden Euro angekündigt. In den vergangenen Tagen schoss die Anmeldung von Kurzarbeit auf 21.000 Firmen mit 315.000 betroffenen Angestellten. Zum Vergleich: Während des Höhepunkts der Finanzkrise 2009 waren es 5.000 Unternehmen.

Wann die Unternehmen wieder zur Normalität zurückkehren können, bleibt ungewiss. Swatch-CEO Hayek hat vergangene Woche betont, dass im Konzern niemand gekündigt werden soll. Die Geschäfte in China, Taiwan und Hongkong würden langsam wieder öffnen. In Europa herrsche zwar aktuell Stillstand, und in den USA werde er bald beginnen. Aber danach "brauchen wir die Leute, wenn die Erholung in der Uhrenbranche kommt – und die wird kommen". (saw, 24.3.2020)