So könnte der Urahn aller Bilateria – und damit auch von uns Menschen – vor über 550 Millionen Jahren ausgesehen haben.
Illustr.: Sohail Wasif/UCR

Von den ersten Zellen der Erdgeschichte, deren Mikrofossilien in bis zu 3,5 Milliarden Jahre altem Gestein gefunden wurden, bis zu den heute bekannten Tiergruppen war es ein weiter Weg. Umso überraschender ist es, dass die ersten Vertreter der modernen Stämme anscheinend wie aus dem Nichts die Bühne der Welt betraten: Zu Beginn des Kambriums vor 541 Millionen Jahren verzeichnen Paläontologen plötzlich einen fossilen Formenreichtum, der geologisch gesehen kurze Zeit davor noch nicht vorhanden war. Experten sprechen daher von der Kambrischen Artenexplosion.

Mittlerweile gehen Wissenschafter allerdings etwas vorsichtiger mit diesem Begriff um. Eine wachsende Zahl von Funden lässt vermuten, dass das unmittelbar vorangegangene Zeitalter evolutionär mindestens ebenso ereignisreich war wie das Kambrium. Gerade der letzte Abschnitt des sogenannten Ediacariums vor 575 bis 541 Millionen Jahren ist von teilweise bizarren Fossilien geprägt, die kaum etwas mit den späteren Organismen gemein zu haben schienen. In der Frühzeit diese Ära traten auch die ersten bekannten komplexen Mehrzeller auf, hauptsächlich waren dies schwammähnliche Lebewesen in unterschiedlichen Formen.

Bizarre Wesen ohne moderne Verwandtschaft

Die meisten dieser bizarren Wesen waren nicht unmittelbar mit den heutigen Tieren verwandt. Dazu zählt etwa auch Dickinsonia, eine kissenförmige Kreatur, der die Grundmerkmale der meisten Tiere wie Mund oder Darm fehlten. Erst die Entwicklung der bilateralen Symmetrie war der entscheidende Schritt in der Evolution. Sie gab den Organismen die Möglichkeit, sich zielgerichtet fortzubewegen und ihren Körper zu organisieren. Von einfachsten Würmern über Insekten, Echsen und Säugetieren bis hin zum Menschen besitzen annähernd alle Wesen denselben bilateralen Körperbauplan.

Evolutionsbiologen nehmen auf Grundlage von DNA-Analysen moderner Tiere an, dass der älteste Vorfahre aller Bilateria primitiv und klein gewesen sein dürfte und rudimentäre Sinnesorgane besaß. Dass von einem solchen Lebewesen versteinerte Überreste erhalten blieben, war bisher als äußerst unwahrscheinlich beurteilt worden. Allenfalls Spuren, die vor hunderten Millionen Jahren im Schlamm hinterlassen worden waren, lieferten Hinweise auf die ersten Bilateria. Zu solchen Fährten und Bohrlöchern zählen beispielsweise Spurenfossilien, die in 555 Millionen Jahre alten Lagerstätten aus dem Ediacarium in Nilpena, Südaustralien, gefunden wurden. Über das Aussehen der Kreaturen, die diese Löcher gegraben haben, konnten die Wissenschafter nur spekulieren.

Abdrücke von Ikaria wariootia im Gestein.
Foto: Droser Lab/UCR

Reiskorngroßer Urahne

Nun aber entdeckte ein Team um Scott Evans und Mary Droser von der University of California, Riverside, an der Fundstätte winzige, ovale Eindrücke in der Nähe einiger dieser Löcher. Mithilfe eines 3D-Laserscanners enthüllten die Forscher, dass das winzige Tier, das die Abdrücke hinterlassen hatte, einen zylindrischen Körper mit ausgeprägtem Vorder- und Hinterende sowie einer schwach gerillten Muskulatur besaß. Das Wesen war zwischen zwei und sieben Millimeter lang und etwa einen bis 2,5 Millimeter breit. Das größte Exemplar glich damit in Größe und Form einem Reiskorn – passte also exakt zu den kleinen Bohrlöchern in dem versteinerten Schlamm.

"Nachdem wir die 3D-Scans durchgeführt hatten, wussten wir, dass wir eine wichtige Entdeckung gemacht hatten", sagte Evans. Die Forscher tauften das Wesen auf den wissenschaftichen Namen Ikaria wariootia. Der Gattungsname stammt von "Ikara", was in der Aborigines-Sprache Adnyamathanha "Treffpunkt" bedeutet. Als Pate für den Artnamen diente der Warioota Creek, ein Bach, der in der Nähe des Fundorts vorüberfließt.

"Die Bohrlöcher von Ikaria entstanden früher als alles bisher Vergleichbare. Es ist das älteste bekannte Spurenfossil, das eine solche Komplexität aufweist", sagte Droser. "Dickinsonia und all die anderen großen Wesen dieser Ära führten wahrscheinlich in eine evolutionäre Sackgasse."

Laserscan des Abruckes eines Ikaria-Exemplars.
Illustr.: Droser Lab/UCR

Komplexer als seine Zeitgenossen

Trotz seiner relativ einfachen Gestalt war Ikaria im Vergleich zu anderen Fossilien aus diesem Zeitalter schon recht komplex aufgebaut, wie die Forscher im Fachjournal "Pnas" berichten. Es grub sich in dünne Schichten von sauerstoffreichem Sand auf dem Meeresboden, vermutlich auf der Suche nach organischen Substanzen. Dies weist auf rudimentäre sensorische Fähigkeiten hin. Die Krümmung von Ikaria lässt überdies auf zwei deutlich unterscheidbare Körperenden schließen, was wiederum bedeutet, dass das Tier sich zielgerichtet fortbewegt hat.

Die konservierten Gänge zeigten außerdem charakteristische Strukturen und Muster, die darauf hindeuten, dass das Wesen vorwärts kam, indem es wie ein moderner Wurm Muskelringe zusammenzog und wieder entspannte, die Forscher sprechen von einer peristaltischen Fortbewegung. Hinweise auf Sedimentverdrängung in den Höhlen und Anzeichen dafür, dass der Organismus sich von organischen Stoffen ernährte, zeigen, dass Ikaria wahrscheinlich einen Mund, einen Anus und einen Darm hatte. Die Evolutionsbiologen hätten ein solches Lebewesen als Urform der bilateralen Tiere angenommen, meinen die Wissenschafter. "Es ist wirklich aufregend, dass das, was wir nun gefunden haben, so gut mit den Vorhersagen übereinstimmt", sagt Droser. (tberg, 28.3.2020)