"Das Blättern im Katalog ist wie ein Ausloten der eigenen Schmerzgrenze in puncto Pauschalreise."

Foto: Getty Images/iStockphoto/Vadmary

Als ich vor zwei Wochen den Umzug vom Wiener Großraumbüro des STANDARD in die traute Schreibstube zu Hause vorbereitete, ging der Blick noch ein letztes Mal quer über den Arbeitstisch: Was darf nun für die kommenden Wochen ins bescheidene Handgepäck des Reiseredakteurs? Etwa das seltsame Foto von einer Jungbäuerin im Bikini, die unter den prüfenden Blicken ihrer Eltern in Tracht betont sexy einem Whirlpool im frisch verfliesten Hobbykeller entsteigt?

"Urlaub am Bauernhof" hat es vor Jahren als Werbemittel per Post verschickt. Seither hängt der DIN-A4-Fotoabzug bei mir im Büro auf der Pinnwand. Weil er mir täglich ein Schmunzeln ob der patscherten Pose der Agrarnixe entlockt, obwohl mit der Aussendung ignoranten Reiseredakteuren in Städten vermutlich nur mitgeteilt werden sollte: Wellness ist in Österreich eine touristische Melkkuh – ab sofort zapfen auch heimische Landwirte von ihr ab. Oder einfacher: Bauer sucht Frau, die wie auf dem Bild, auf seinem Hof baden gehen will.

Familiäre Selbstisolation

Ich entschied mich letztlich gegen die Überführung des landwirtschaftlichen Pin-ups ins urbane Homeoffice. Eine Wohnung muss momentan eh schon Schule, Fitnessstudio, Liebesnest und Büro in einem sein. Besser also, Mann verbreitet in der familiären Selbstisolation nicht auch noch den Stallgeruch einer Kfz-Werkstatt mit fremden Frauen im Spind.

Doch dann fiel der Blick auf die vielen Reisekataloge neben dem Foto. Ein ganzer Stapel mit wohlklingenden Untertiteln wie "Exotik pur", "Länder des Lächelns" und "Pauschal total". Ich habe in den vergangenen Monaten nie auch nur einen einzigen Blick hineingeworfen, denn was sollte ich unseren Lesern auch daraus zitieren: "Buchen Sie unbedingt die Familiensuite vor Ende Juli, weil dann ein zehnprozentiger Rabatt auf die alkoholfreien Cocktails im Kidsclub winkt"?

Reisekataloge sind etwas für Kunden und nicht für Schreiber, die in einer Zeitung vom Reisen erzählen. Also eher für Frühbucher daheim und nicht für Spätabgeber in der Redaktion. Dachte ich mir und packte dennoch gut 1000 Seiten mit unschlagbaren Pauschalreiseangeboten ein. Schon in den ersten Tagen im Homeoffice ist das Rascheln beim Blättern durch momentan nur theoretische Ausflüchte zum wohlklingenden Soundtrack eines Reiseredakteurs in der Selbstisolation geworden.

Wirtschaftswunder

Das Jahr 2020 fühlt sich in diesen Tagen absurderweise ein wenig wie das Wirtschaftswunderjahr 1963 an – halt ausschließlich in Bezug auf die Sinnhaftigkeit von Reisekatalogen. In diesem Jahr kam nicht nur John F. Kennedy nach Deutschland, um ein Berliner zu sein, und die erste Compact Cassette von Philips aus den Niederlanden in die Welt, sondern eben auch der allererste Reisekatalog auf den Markt. Neckermann legte seinem Versandhauskatalog eine sechsseitige Broschüre bei, die damit warb, Pauschalreisen ab sofort so einfach wie Lampen oder Haushaltswaren anbieten zu können: zum Beispiel 14 Tage Mallorca, Flug, Hotel, Vollpension, alles inbegriffen, für umgerechnet damals 338 Deutsche Mark oder 173 Euro. Inflationsbereinigt entspricht das allerdings rund 800 Euro.

Damals wie heute gilt, dass das Schmökern in solchen Angeboten einen höchst theoretischen Charakter hat – 1963, weil sich nur ein geringer Prozentsatz der Familien diese 800 Euro leisten konnte, und 2020, weil in der Corona-Krise kaum jemand reisen kann. Der gar nicht beabsichtigte Zweck dieser Kataloge – träumen, ohne gleich zu buchen – tritt wieder in den Vordergrund. Dennoch soll man auch in der Krise zwischen Träumen und Albträumen unterscheiden. Also legte ich vorerst den Katalog mit All-inclusive-Clubs beiseite, denn diese Anlagen sind ja auch in Zeiten der Normalität so abgeschnitten von der Außenwelt wie hoffentlich nur derzeit ein Reisender in Isolation.

Fahrendes Volk

Zu allererst schnappte ich mir einen Katalog, der mir in den letzten Tagen im Großraumbüro zugeschickt wurde: "Seniorenreisen 2020". Nun gut, mit 44 Jahren bin ich vielleicht noch nicht ganz Zielgruppe, ich halte aber große Stücke auf rüstige Rentner, die das Herumtingeln nie aufgeben. Im Jänner 2020 durfte ich sogar ein über siebzigjähriges Pärchen der Gattung vierrädrige Zugvögel im Oman beobachten. Wie sie aus ihrem Wohnmobil kamen, für das sie zuvor fast alles daheim in Friedrichshafen am Bodensee verkauft hatten, nur um mir herzlich das flüchtige "Hallo" von fahrendem Volk anzubieten und stolz von ihrer Überfahrt mit der Fähre aus dem Iran zu berichten.

Die Ziele aus dem Katalog für Seniorenreisen sind damit nicht vergleichbar. Weder geografisch noch ideell. Wie die Veranstalter dieser Reisen aber verraten, bieten sie ebenso gute, vermutlich sogar noch berührende Geschichten, die nach dem Ende der Krise unbedingt als Reportage erzählt werden sollten. Etwa der Fall von den beiden über 80-jährigen Singles, die im Traum nicht daran denken, jetzt schon zusammenzuziehen, aber jedes Jahr gemeinsam verreisen. Mit der Überlegung: Wenn wir eine typische Stresssituation wie Urlaub ohne Streit überstehen, vielleicht klappt es dann auch irgendwann einmal daheim in gemeinsamen vier Wänden mit uns. Ich erlaube mir ein bisschen wilde Spekulation in der Selbstisolation: Diese beiden älteren Semester sehen sich nicht als Hochrisikogruppe. Weder für das Virus noch in Bezug auf die Gefährdung durch Einsamkeit.

Blättern bis zur Schmerzgrenze

Das unerschrockene Weiterblättern bis zur Seite mit dem Töpferkurs für Senioren in Tunesien hat mich offensichtlich verwegener gemacht, was das Ausloten eigener Schmerzgrenzen in puncto Pauschalreise betrifft. Danach traute ich mich sogar über das Hofer-Reisen-Flugblatt drüber. Ich habe es im Zuge eines Hamsterkaufes (ein Kilogramm Gummibären-Frohmacher der Marke "… und Erwachsene ebenso") bei meinem Nahversorger eingesteckt – zum ersten Mal im Leben. Das fünf Tage vor dem Beginn der Ausgangsbeschränkung erschienene Pamphlet beginnt mit dem wenig optimistischen innerösterreichischen Urlaubsradius, um dann wenige Seiten später doch noch zuversichtlich zu einer Reise im September nach Khao Lak in Thailand zu verführen.

Als ich das Fototapetenbild mit Strand und Palme länger betrachtete, ja sogar zärtlich mit dem Zeigefinger über das billige Papier streichelte, machte ich eine Eigenbeobachtung: Ich blendete aus, dass es sich dabei um einen eben erst beschriebenen Ressort-Urlaub handelt, der mit dem abgebildeten "Serviervorschlag" des unberührten Badeparadieses vermutlich so wenig zu tun hat wie eine Kreuzfahrt mit den Entdeckungsfahrten des Marco Polo. Gewissermaßen schien ich eher fähig zu sein, meine eigene Borniertheit in der Beurteilung, was "echtes Reisen" ist, aufzugeben. Sollte davon irgendetwas nach der Krise übrig bleiben, ist es womöglich der Merksatz: Es ist nicht schlimm, wenn manche sich in Thailand wähnen, auch wenn sie nur in einem Hotel in Thailand weilen. Immerhin hatte ich selbst gerade durch das haptische Erlebnis, eine gedruckte Palme zu berühren, die Illusion, irgendwo da draußen zu sein. Und sei es nur beim Hofer für den nächsten Hamsterkauf.

Gedankliches Nebengeräusch

Das Rascheln im Reiseblätterwald bei mir zu Hause ebbte seither nie mehr ab und verursachte noch ein weiteres gedankliches Nebengeräusch: Vor der Krise ist nach der Krise, was die Auswüchse des Massentourismus und die damit verbundenen negativen Auswirkungen auf das Klima betrifft. Und wir Reisejournalisten wurden zuletzt häufig dafür angefeindet, dennoch auch Geschichten von Orten zu bringen, zu denen nur das Flugzeug führt. Ich denke, es verhält sich dabei in einem Punkt wie mit dem ersten Neckermann-Reisekatalog aus dem Jahr 1963.

Da stehen ganz viele Möglichkeiten drin, über deren Realisierung ausschließlich mündige Individuen entscheiden. In einem anderen Punkt unterscheidet sich die journalistische Reisereportage aber ganz wesentlich vom Prospekt: Sie ist eine Aufforderung zum kritischen Lesen, manchmal zum Träumen, nie zum Buchen. Im Idealfall sollte man nach der Lektüre das Gefühl haben, dort gewesen zu sein, ohne je einen Fuß vor die Tür gesetzt oder ein Flugticket gekauft zu haben.

Apropos keinen Fuß vor die Tür setzen: Eben habe ich bei meinem Lieblingsreisebüro, ein Familienbetrieb, der akut durch Schließung bedroht ist, um die Zusendung weiterer Kataloge gebeten. Mit dem Vermerk: "Ich wünschte, Sie könnten mein Blättern hören. Es erzeugt dieses leise Nebengeräusch von Hoffnung." (Sascha Aumüller, RONDO, 27.3.2020)