Im Gastkommentar rät der Rechtsanwalt Alfred J. Noll, "in der Krise auf die peinliche Einhaltung des Rechtsstaates" zu achten.

Zeiten der Krise haben ihre Eigentümlichkeiten. Wo Routinen fehlen und sich Zuversicht nicht entlang der Üblichkeiten entwickeln kann, geraten wir alle in den Sog vermeintlicher Notwendigkeiten. Und plötzlich "muss" man tun, was gestern noch allen fernlag. Das gilt für alle Krisenzeiten, mögen sie wirtschaftlich, politisch oder medizinisch induziert sein. Immer schon erwuchs aus der Krise die billige Toleranz, das "Notwendige" vor das rechtlich Erlaubte stellen zu lassen; immer schon wirkte die Rede von der "normativen Kraft des Faktischen" als eine Art allgemeiner Problemlöser.

Nun sehen wir in allen Demokratien, dass sich längst schon die Regierungen gegenüber den Volksvertretungen eine gewisse faktische Übermacht erobert haben. Die Gesetzgebung ist fast in allen Fällen nicht mehr als das bloß legitimatorische Vehikel der Exekutive – gemacht wird, was die Regierung sagt. In Krisenzeiten beschleunigt sich diese Tendenz, denn für alle scheint es offensichtlich zu sein, dass man sich nicht mit langen Diskussionen und mit exotischen Abwägungen aufhalten dürfe, wenn man die Krise meistern wolle. Die ex cathedra ausgerufene Krise ist definitionsgemäß fast immer schon das Ende jener für unser politisches System in Normalzeiten so hoch gepriesenen Diskurs- und Debattierbereitschaft. Die daraus erwachsende Gefahr, dass plötzlich der gesamte Staat in die Hand einer übertrieben handlungswilligen Exekutive gerät, liegt auf der Hand.

"Es wird nicht das Leben von heute auf morgen wieder so sein, wie es war." Bundeskanzler Sebastian Kurz' Ziel ist es, nach Ostern die drastischen Maßnahmen schrittweise zurückzunehmen.
Foto: APA / Herbert Neubauer

Suspendierte Grundrechte

Dass diese Betrachtung nicht nur theoretisch ist, will ich an einem kleinen Beispiel zeigen: Mit Paragraf 1 der "Verordnung des Gesundheitsministers gemäß § 2 Z 1 des Covid-19-Maßnahmengesetzes" wird ausgesprochen: "Zur Verhinderung der Verbreitung von Covid-19 ist das Betreten öffentlicher Orte verboten." Diese De-facto-Ausgangssperre für uns alle im gesamten Bundesgebiet – die durch einige Ausnahmen wieder zurückgenommen wird – ist die gravierendste Grundrechtseinschränkung, die die Republik Österreich seit 1945 erlebt hat. Damit ist nicht nur das allgemeine Freiheitsrecht, sondern auch das Veranstaltungs-, Versammlungs- und Demonstrationsrecht beseitigt – und zum großen Teil auch die Erwerbsfreiheit ausgehebelt.

Darf der Gesundheitsminister so etwas? Dürfen unsere Grundrechte durch die Regierung suspendiert werden? Ist es tatsächlich so einfach, die Grundlagen einer liberalen Demokratie einfach abzuschaffen?

Offenkundige Diskrepanz

Der Gesundheitsminister darf zunächst, was ihm der Gesetzgeber erlaubt. Werfen wir also einen Blick auf den in der Verordnung angeführten Paragrafen 2 Ziffer 1 Covid-19-Maßnahmengesetz. – Was lesen wir dort? "Beim Auftreten von Covid-19 kann durch Verordnung das Betreten von bestimmten Orten untersagt werden, soweit dies zur Verhinderung der Verbreitung von Covid-19 erforderlich ist."

Man muss nicht juristisch gebildet sein, um die offenkundige Diskrepanz zwischen der gesetzlichen Verordnungsermächtigung und dem Verordnungstext zu erkennen: Im Gesetz steht, es dürfe das Betreten "von bestimmten Orten" untersagt werden – unser Gesundheitsminister verbietet uns aber das Betreten aller (!) öffentlichen Orte. Damit wird die gesetzliche Verordnungsermächtigung jedenfalls überschritten, denn wenn uns grenzen- und bestimmungslos das Betreten aller öffentlichen Orte verboten wird, dann wäre es völlig absurd zu sagen, damit sei uns bloß das Betreten bestimmter Orte untersagt. Die vom Gesundheitsminister verordnete Ausgangsbeschränkung, die bis 14. April verlängert wurde, ist also eklatant gesetzwidrig. Wir könnten uns damit beruhigen, indem wir sagen: Besondere Zeiten erfordern besondere Maßnahmen. Ja, gewiss, manche mag das beruhigen. Mich nicht.

Kein Aufschrei

Es ist ein Kennzeichen aller staatlichen Krisenzustände, mögen sie real oder auch nur herbeigeredet werden, dass immer rasch das rechtsstaatliche Gepäck in den Gully geschmissen wird. Der Verweis auf die aus der Krise erwachsenden Notwendigkeiten – die ich nicht anzweifle – ist so verführerisch wie fatal: Gerade in Zeiten der Krise sollten wir auf die überpeinliche Einhaltung unserer rechtsstaatlichen Handlungsschranken achten. Nicht aus einem nebulosen, weltfremden Prinzip heraus, sondern aus Gründen wohlbedachter Pragmatik: Was sich in Krisenzeiten an Rechtsverletzungen auftürmt, das neigt dazu, auch in postkritischen Zeiten Bestand zu behalten. Oder anders gesagt: Nur wer in der Krise auf die peinliche Einhaltung des Rechtsstaates achtet, kann aus der Krise mit der Zuversicht hervorgehen, diesen Rechtsstaat auch nach der Krise noch zu haben. Wir dürfen gerade in Zeiten der Seuche dem Siechen der Grundrechte nicht teilnahmslos zuschauen.

Oder um es zu einem konkreten Abschluss zu bringen: Wo ist der Aufschrei der Damen und Herren, die im Nationalrat einstimmig den Gesundheitsminister nur dazu ermächtigt haben, das Betreten "von bestimmten Orten" zu untersagen, die aber jetzt, wo er uns ganz unbestimmt das Betreten aller (!) öffentlichen Orte verbietet, keinen parlamentarischen Mucks machen? (Alfred J. Noll, 25.3.2020)