Der Begriff "Herdenimmunität" wird derzeit so oft verwendet, dass viele Missverständnisse entstehen, was damit eigentlich gemeint ist.

Grundsätzlich geht es um Folgendes:

Bei einer Infektionskrankheit ist ein ganz wichtiger Begriff die Basisreproduktionszahl, das ist die durchschnittliche Anzahl der noch nicht Infizierten, die ein Infizierter mit durchschnittlichem Kontaktverhalten ansteckt. Die Schätzungen bei Covid-19 gehen da von einem Faktor 3 aus.

Wir gehen jetzt davon aus, dass die Krankheit einen bestimmten Zeitraum dauert und der Infizierte danach gesund und immun gegen die Krankheit ist, sie also kein zweites Mal bekommen kann.

Wenn die Basisreproduktionszahl 3 ist, dann steckt ein Infizierter drei weitere an. Diese drei stecken neun weitere an und so weiter. Die Zahl der Infizierten nimmt also exponentiell zu.

Wenn von den drei Leuten, die er anstecken würde, zwei schon immun sind, dann steckt ein Infizierter nur eine weitere Person an, wird selber gesund und später dann auch die neu angesteckte Person, die allerdings wieder eine weitere Person angesteckt hat. Die Zahl der Infizierten nimmt also im wesentlichen nicht zu.

66 Prozent sollten immun sein

Die Herdenimmunität, also der Zustand, in dem die Zahl der Infizierten nicht mehr exponentiell zunimmt, ist dann erreicht, wenn zwei Drittel der Bevölkerung immun gegen die Infektion sind und die Krankheit nicht mehr weiter verbreiten können.

Herdenimmunität kann auf verschiedene Arten erreicht werden. Bei Krankheiten, bei denen es eine (immunisierende) Schutzimpfung gibt, muss man den entsprechenden Prozentsatz der Bevölkerung impfen.

Beispiel: Bei Masern geht man von einer Basisreproduktionszahl von 15 (oder mehr aus). Ein Infizierter infiziert also 15 noch nicht infizierte und nicht immune Personen an. Wenn 14 von den 15 Personen aber immun sind, dann wird nur nur eine weitere Person infiziert. Die Herdenimmunität ist in diesem Fall erreicht, wenn 14/15 = 93 Prozent immun (weil geimpft) sind.

Bei der Basisreproduktionszahl von Covid-19, also 3, sollten 2/3 = 66 Prozent der Bevölkerung immun sein, damit sich die Krankheit nicht weiter exponentiell ausbreitet. Es gibt derzeit noch keine Schutzimpfung gegen Covid-19, aber die gängige Meinung ist, dass man, wenn man Covid-19 durchgestanden hat, immun dagegen ist.

Man kann also auf den "natürlichen" Weg zur Herdenimmunität kommen, und einfach warten, bis ein so großer Anteil der Bevölkerung die Krankheit durchgestanden hat und dann immun ist.

Dabei nimmt man in Kauf, dass es viele schwere Verläufe und Todesfälle gibt. Eine Schätzung der Sterberate bei Covid-19 Infizierten ist 3 Prozent (oder sogar mehr). Das wären in Österreich bis zum Erreichen der Herdenimmunität 3 Prozent von 66 Prozent der Bevölkerung: also 180.000 Personen.

Foto: APA/dpa/Sven Hoppe

Nicht ausgerottet, aber unter Kontrolle

Allerdings sind die drei Prozent aufgrund der registrierten Erkrankungen geschätzt. Richtigerweise muss man sie aber auf alle Infizierten beziehen. Wenn wir annehmen, dass nur ein Drittel aller Infizierten auch erkannt  und registriert wird, dann beträgt die Sterberate in Bezug auf alle Infizierten ein Prozent. Das wären in Österreich 60.000 Personen.

Allerdings kann man auch, solange sich die Infektion ausbreitet, registrierte Erkrankte isolieren. Dann wird sich die Krankheit trotzdem ausbreiten, weil es ja viele symptomfreie Infizierte gibt, die die Infektion weiter verbreiten. Auch bei diesem Vorgehen wird sich einmal Herdenimmunität einstellen, weil ausreichend viele Personen die Infektion überstanden haben und immun sind.

Und wenn die Herdenimmunität erreich ist, dann ist die Krankheit zwar nicht ausgerottet, sie wird sich aber nicht mehr unmäßig verbreiten, man hat sie "unter Kontrolle".

Das Wort Herdenimmunität hat derzeit einen schlechten Beigeschmack, weil man damit assoziiert, dass man nichts tun brauche, weil sich irgendwann "ganz von selbst" der Zustand einstellt, wo die Krankheit nicht mehr besonders gefährlich ist.

Wir werden die Herdenimmunität erreichen

Herdenimmunität hat aber nichts damit zu tun, ob man Maßnahmen trifft, die Kranken und Schwerkranken medizinisch so zu versorgen, dass man ihre Beschwerden verringert und Todesfälle möglichst verhindert, und ob man versucht, die Ausbreitung der Krankheit durch Kontaktreduktion zu verlangsamen.

Auch wenn wir gezielt etwas für Kranke tun und Kontakte reduzieren, dann wird sich langfristig Herdenimmunität einstellen. Wenn wir die Kontakte reduzieren, dann wird es länger dauern, bis dieser Zustand erreicht ist, und es werden zu jedem Zeitpunkt weniger Personen schwer krank sein, das Medizinsystem wird also pro Erkranktem mehr Ressourcen zur Verfügung haben. Zu sagen "Auf Herdenimmunität zu setzen ist verwerflich" ist also ein Missverständnis. Wir werden die Herdenimmunität so und so erreichen.

Verwerflich ist es aber, ausschließlich auf den "natürlichen Weg" zur Herdenimmunität zu gelangen und keine Schutzmaßnahmen für die Kranken und Schwerkranken zu setzen und auch die physischen Sozialkontakte nicht zu reduzieren. Auch mit solchen Maßnahmen werden wir schließlich die Herdenimmunität erreichen, aber mit weitaus geringeren negativen Folgen für die Gesellschaft.

Und wenn es in Zukunft ein Schutzimpfung gegen Covid-19 gibt, dann kann die bewirken, dass wir Herdenimmunität erreichen, ohne dass zwei Drittel der Bevölkerung die Infektion durchmachen müssen, weil die Immunität eben auch durch die Schutzimpfung erreicht werden kann. (Erich Neuwirth, 26.3.2020)

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