Blickte ins Brennglas der Moderne und fand sich wieder in der Figur des Flaneurs: Walter Benjamin, Theoretiker der Warengesellschaft.

Foto: Akademie der Künste, Berlin

Eine einzige, unvergleichlich große Stadt wird zum Brennglas der gesamten Moderne: Sein Sammelwerk zu den "Pariser Passagen" hat den jüdischen Denker Walter Benjamin bis knapp vor seinem Tod 1940 beschäftigt. Das leitende Prinzip der Sammeltätigkeit ist das der Zusammenschau: Konstruiert wird eine Lebenswelt, deren sämtliche Sphären ein- und demselben Prinzip unterliegen. Jede noch so geringfügige Sache, jeder im Gewoge der Großstadt ausgespähte Gegenstand, muss sich unter das Joch seiner Verwertung als Ware beugen. Der Kommerz ist der Tod der unbelebten Materie. Noch das Karussell der wechselnden Moden huldigt bloß dem "Sex-Appeal des Anorganischen", dem Fetischismus.

"Paris, Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts" nennt sich das kaum zwanzigseitige, ungemein dichtgedrängte Exposé zum unerledigt gebliebenen "Passagen-Werk". Walter Benjamin nimmt darin die "Urgeschichte der Moderne" anhand ihrer Materialfülle in den Blick. Er ruft die Erinnerung an die mit Glas gedeckten Straßenzüge wach, an die Schaufenster voller erlesener Konsumgüter.

Besuch beim Fetisch

Doch noch die Leistungsschauen des Kapitalismus betrügen den Menschen um sein Kostbarstes: "Weltausstellungen sind die Wallfahrtsstätten zum Fetisch Ware." Selbst die unschuldigsten Vergnügungen, die sich die von der Industriearbeit geknechteten Menschen genehmigen, locken lediglich mit "Zerstreuungen". Die reißen den Menschen aus seiner Mitte heraus.

Die Verhältnisse sind im prosperierenden 19. Jahrhundert somit nach allen Seiten hin heillos. Die ohnedies ungenügend realisierte Demokratie ist die Maske eines Bürgertums, das sich im Schutz der Institutionen reichlich unbehelligt um seine Bereicherung kümmert. Daher auch der Hang zum Pomp in den eigenen Wänden: Für Politik und soziales Gewissen findet sich im Eigenheim kein Platz. Für den Bourgeois ist "sein Salon eine Loge im Welttheater".

Es bleibt dem ruhelosen Flaneur vorbehalten, die Stadt auf der Suche nach Neuigkeiten zu durchstreifen. Das von Menschen Gemachte, das wiederkehrende Muster aus Ziegelbauten und Fassaden, ist ihm noch einmal die vollendete "Naturlandschaft". In ihm, dem Flaneur, wird die Trostlosigkeit des entstehenden Großstadtmenschen von einem "versöhnenden Schimmer" umspielt.

Betörend welke Blumen

In den Dichtungen Charles Baudelaires, in dessen betörend welken "Blumen des Bösen", soll Zweideutigkeit wiederum die Hoffnung auf die kommende Erlösung verbürgen helfen. Benjamin meint, in den Bildern der Moderne Proben einer Dialektik am Werk zu sehen, die er als "stillgestellt" empfindet. Alles ist es selbst, und wird doch von seiner gegenteiligen Bestimmung gleichsam wie im Traum aufgehoben: "Ein solches Bild stellen die Passagen, die sowohl Haus sind wie Straße. Ein solches Bild stellt die Hure, die Verkäuferin und Ware in einem ist." Theodor W. Adorno, Benjamins von gedanklichem Argwohn nicht ganz freier Freund ("Ihr Teddie Wiesengrund"), hat sich dessen eigentümlich statische Auffassung von Dialektik als eines gelähmten Bewegungsgesetzes übrigens ausdrücklich verbeten.

Das Unterdrückerische findet im großzügigen Straßennetz der Belle-epoque seinen ebenso pompösen wie letztlich zweckdienlichen Ausdruck. Der letzte von sechs Punkten, die Benjamin anführt, drückt die politische Wahrheit unverblümt aus.

Wiederum ist die ästhetische Veredelung nur dazu da, die technische Notwendigkeit zu bemänteln. Die städtebaulichen Pläne des legendären Präfekten Georges-Eugène Haussmann haben Paris sein wahres, von Gewalt nicht freies Antlitz beschert: Die breiten Boulevards machen es für den "Mob" unmöglich, Barrikaden zu errichten. Gleichzeitig bilden die Prachtstraßen ein Aderngeflecht, dass die Kasernen mit den Arbeitervierteln direkt verbindet.

Walter Benjamins betörendes Substrat der (Pariser) Moderne ist ein unvergleichlicher Sirup: Aus ihm lassen sich unzählige Aufgüsse gewinnen. Heerscharen von Pansen-Marxisten haben von diesem Prosaelixier begierig genippt. Mögen in Benjamins Denken die messianischen mit den materialistischen Aspekten auch vielfach miteinander unversöhnt geblieben sein: In ihm liegt auch ein Schlüssel für unser akutes Weltverständnis. "Mit der Erschütterung der Warenwirtschaft beginnen wir, die Monumente der Bourgeoisie als Ruinen zu erkennen noch ehe sie zerfallen sind." An diesem Blick gilt es, festzuhalten. (Ronald Pohl, 26.3.2020)