Der Soziologe Harald Welzer brachte es jüngst im ZDF so treffend auf den Punkt: "Wir leben in einer Gesellschaft, die sagt, irgendwer muss liefern." Ich bin eine der unzähligen pflegenden Angehörigen in diesem Land, die seit vielen Jahren "liefert". Meine Mutter (fast 81) zählt infolge ihrer Vorerkrankungen aktuell zur Gruppe der Hochrisikopatienten. Um es brutal auszudrücken: Vor die Wahl gestellt, würden ihr die Ärzte im schlimmsten Fall kein Beatmungsgerät mehr geben.

Digital betreuen – wie soll das funktionieren bei all den Älteren, die neben der Lungenpest COPD noch Makuladegeneration haben und fast blind sind?

Homeoffice funktioniert für Pflegende nicht. Urlaub? Kenne ich nur aus Erzählungen.
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Homeoffice funktioniert in der Pflege nicht. In Vor-Corona-Zeiten war ich mindestes einmal täglich bei meiner Mutter, jetzt alle zwei bis drei Tage – wenn nichts passiert. Ich erledige den gesamten Haushalt, den meiner Mutter und den eigenen – neben dem Job. Ohne Auto wäre das unmöglich. Es sind die zahlreichen Kleinigkeiten, die bei Pflegebedürftigen bereits Krisen auslösen: Die Batterie der Fernbedienung ist kaputt oder eine Glühbirne. Da rede ich noch nicht vom Bettenüberziehen, Kochen, von Arztterminen. Was aktuell viel besser funktioniert, sind die Rezepte. Beim Arzt anrufen und das Rezept zur Apotheke faxen oder mailen lassen. Das erleichtert den Alltag.

Appelle, man möge das soziale Leben einschränken, kosten mich einen müden Augenaufschlag. Welches soziale Leben? Ich habe einfach seit Jahren keines. Allzeit bereit, rund um die Uhr. Urlaub? Kenn ich nur aus Erzählungen.

Ich kann mir ehrlich gesagt auch nicht vorstellen, dass, wie jetzt angedacht, Zivildiener ohne Vorkenntnisse zur Pflege eingesetzt werden. Sollen die einer über 80-Jährigen bei der Hygiene helfen?

Gewaltig viel Luft nach oben

Es wurde viel Zeit verloren in der Vergangenheit. Und am Grundproblem, dass es in dem großen Bereich Pflege zu wenig Personal gibt, wird sich auch so rasch nichts ändern. An den Kosten kann die Pflege doch nicht scheitern in einem Land, das es sich leisten kann, den Pflegeregress abzuschaffen. Und wo sind eigentlich die zig Milliarden Euro, die sich die Republik seit der Finanzkrise 2008 an Zinszahlungen (wegen der Nullzinspolitik der Europäischen Zentralbank) in all den Jahren erspart hat? Nimmt man das 38 Milliarden Euro schwere Corona-Hilfspaket, das jetzt beschlossen wurde, gibt es da noch Luft nach oben, und zwar gewaltig viel.

Weil irgendwann ist auch der letzte Babyboomer, der gerade seine Angehörigen betreut, ein Pflegefall.