Hier ist die Welt nur nach außen in Ordnung: Esty (Shira Haas) und Yanky (Amit Rahav) heiraten. Um das Danach geht es in "Unorthodox".

Foto: Netflix

Anna Winger holte die deutsche Fernsehlandschaft ins Serienzeitalter. Die 49-jährige Amerikanerin mit Wohnsitz in Berlin erdachte 2015 mit ihrem Mann die vielgelobte und mit einem Emmy prämierte Serie Deutschland 83. Nun folgt mit Unorthodox ab Donnerstag das erste Projekt für Netflix. In einem Kreuzberger Ladenlokal hat die Drehbuchschreiberin und Produzentin ihr Büro eingerichtet. An der Wand hängen Ideenschnipsel und Kassenzettel, im Regal stehen historische Memorabilien, unter anderem ein Bild des letzten Staatsratsvorsitzenden der DDR, Egon Krenz: "Niemand wollte es haben, jetzt hängt es hier."

STANDARD: "Unorthodox" erzählt vom Ausbruch einer jungen Frau aus einem religiösen Korsett. Alle relevanten Positionen in Cast und Crew sind mit Frauen besetzt. Was hat Sie daran gereizt?

Winger: Die Serie entstand eigentlich aus Diskussionen mit Freunden in Berlin: Wie lebt man heute als Jude in Deutschland. Ich kannte Deborah Feldman ...

STANDARD: ... auf deren Bestseller die Serie beruht ...

Winger: ... weil unsere Kinder dieselbe Schule in Berlin besuchen. Wir saßen eines Tages zusammen, da schlug sie vor: Warum machst du aus meinem Buch nicht eine Serie? Zuerst war ich nicht überzeugt. Die Geschichte spielt nur in der Vergangenheit, in der Glaubensgemeinschaft der Satmarer Chassiden in Williamsburg. Deborah lebt seit ein paar Jahren in Berlin, ich wollte die Stadt mehr in ihre Erzählung einbinden. Also haben wir uns auf das Ende der Ehe konzentriert und danach eine Handlung frei erfunden. Wir hatten ein relativ kleines Budget, und vielleicht sieht nicht alles nach Hochglanz aus. Aber Perfektion ist nicht das Ziel, Originalität muss am Ende herauskommen.

STANDARD: Wie anders ist die Energie, wenn keine Männer mitentscheiden?

Winger: Es gibt mehr offene Konflikte unter Frauen. Bei Männern bleibt vieles ungesagt, diese repressive Wettbewerbskultur kennen Frauen überhaupt nicht. Ich will nicht die lauteste Person bei einem Meeting sein, aber mir gefällt es, wenn ich produktiv über eine Sache diskutieren kann. Das gehört zu meiner Kultur dazu.

STANDARD: Sie streiten gern?

Winger: Im Jiddischen gibt es ein schönes Wort: Halacha. Es beschreibt die Diskussion, wenn Rabbis mit anderen Männern am Tisch zusammensitzen, die Thora studieren und über Passagen dar aus debattieren. Viel anders funktioniert ein Writer’s Room auch nicht.

STANDARD: Ist die Streamingwelt freundlicher zu Frauen als TV-Sender?

Winger: Ich glaube, meine jetzige Karriere in Deutschland ist nur dank der Streamer möglich. Ich bin Amerikanerin in Berlin, eine Frau in einem männerdominierten Geschäft, schreibe nicht auf Deutsch und habe mit 40 mein erstes Drehbuch verfasst. Die Streamer sind für solche Lebensläufe offen.

STANDARD: Befürworten Sie eine Frauenquote in Fernsehanstalten?

Winger: Natürlich. Ich kenne Frauen, die sagen: Wir wollen die Person, die den Job am besten machen kann. Aber wie kann man diese Person werden, wenn man nicht den einen ersten Job bekommt? Bei meinen Kursen an Filmhochschulen sind die Klassen voller Regisseurinnen. Hinter der Kamera sehe ich kaum welche.

STANDARD: Die Geschichte von "Unorthodox" war Ihnen eine Herzensangelegenheit. Konnten Sie zu starken Frauen im Fernsehen aufschauen, als Sie jung waren?

Winger: Es gab nur einige Sitcoms, die eine unabhängige Frau als Hauptfigur hatten. That Girl aus den 70er-Jahren handelte von einer jungen Frau, die nach New York zieht und dort ihren Weg macht. Die erste Frauenserie, die danach ähnlich wichtig für mich wurde, war Sex and the City.

STANDARD: Die HBO-Serie wurde Ende der 90er-Jahre von schwulen Männern erdacht.

Winger: Allerdings saßen im Autorenteam einige Frauen. Das waren gut geschriebene Episoden, die den Zeitgeist einfingen. Die Fi guren waren richtungsweisend. Plötzlich ging es um unabhängige, moderne Frauen in Manhattan, mit denen ich mich identifizieren konnte. Das war neben supermännlichen Stoffen wie den Sopranos ziemlich einzigartig. (Ulf Lippitz, 26.3.2020)