Daheimsein ist alles. Man muss den Olympia-Slogan kaum verändern, damit er für heuer Gültigkeit hat. Der Film "2020 – Odyssee des Weltsports" hat seinen Höhepunkt mit der Verschiebung der Olympischen Sommerspiele schon hinter sich, er flimmert dem Abspann entgegen. Noch hoffen die großen und auch alle anderen Fußballligen wie die österreichische, dass sie die Saison notfalls mit Geisterspielen zu einem Ende bringen, was wirtschaftlich einigermaßen verkraftbar wäre. Doch die Zweifel auch daran werden größer.

"Diese Krise ist größer als die Olympischen Spiele." Mit der Aussage hatte die Kanadierin Hayley Wickenheiser vor einer Woche weltweites Aufsehen erregt, darüber hinaus kritisierte sie das Internationale Olympische Komitee (IOC) in seinem damaligen Festhalten am Tokio-Termin als "unsensibel und gefühllos". Das ist insofern bemerkenswert, als Wickenheiser, die viermal Olympiasiegerin im Eishockey war, seit 2014 als Athletenvertreterin selbst im IOC sitzt.

Als Krisenmanagement gefragt war, blieb Thomas Bachs Platz leer.
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Medizinerin ist sie aber auch. Vielleicht auch deshalb macht Wickenheiser im Gegensatz zu vielen anderen Ex-Aktiven, die sich auf Funktionärsebene im Handumdrehen untergeordnet haben, ihren Mund auf. Der Spiegel berichtet, dass kürzlich bei einer Telefonkonferenz von Aktivenvertretern aus aller Welt mit der IOC-Führung die Technik streikte, just als Wickenheiser an die Reihe gekommen wäre. Zufall?

Tokio 2020 wurde erst nach einem schwer zu ertragenden Zögern und Hinhalten auf 2021 verlegt, die Sportwelt atmete auf. Und sie macht sich Gedanken über ihre Leader, allen voran über Thomas Bach, den Präsidenten des IOC. Der 66-jährige Deutsche hatte wochenlang einen wahren Eiertanz hingelegt und Sportlerinnen und Sportler auf der ganzen Welt mit seinem sturen Festhalten am ursprünglichen Termin im Sommer verunsichert.

Noch am Sonntag gab sich das IOC eine Frist, um weitere vier Wochen mit einer Entscheidung zuzuwarten. Dann schrumpften die vier Wochen auf zwei Tage zusammen, Bach und die japanische Regierung zogen die Reißleine. Viel zu spät. Längst hatten andere das Heft des Handelns in die Hand genommen. Sportnationen wie Kanada und Australien verkündeten schon ihren Verzicht auf Tokio, und der wichtigste Sommersportverband, jener der Leichtathletik, drängte über seinen Präsidenten Sebastian Coe auf eine Verschiebung.

Das IOC hat sich mit 20 Milliarden Dollar gegen einen Olympiaausfall versichert. Den Schaden hat nun Japan (im Bild Premier Shinzo Abe), das im schlimmsten Fall mit Kosten von mehr als 50 Milliarden Dollar rechnen muss.
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Es liegt auf der Hand, dass die IOC-Hinhaltetaktik wirtschaftliche Gründe hatte. Nicht nur die Süddeutsche Zeitung vermutet ein "angesichts der globalen Notlage mindestens zynisches Taktieren". Bach und der japanische Premier Shinzo Abe hätten bis zuletzt darauf gewartet, "dass der jeweils andere die Verlegung bzw. Absage vorschlägt". Wer zuerst zucke, wird da der britische Sportrechtler John Mehrzad zitiert, "gilt als vertragsbrüchig und sieht sich milliardenschweren Schadenersatzforderungen ausgesetzt". Das IOC hat sich dem Vernehmen nach mit 20 Milliarden Dollar gegen einen Olympiaausfall versichert. Den Schaden hat nun vor allem Japan, das schon 26 Milliarden Dollar investierte und dessen Kosten sich schlimmstenfalls nun sogar verdoppeln könnten, wie Wissenschafter berechneten.

Unmut über Bach

Unzählige Aktive und Coaches hatten ihren Unmut über Bach und das IOC kundgetan. Dass in Österreich von diesem Unmut wenig zu hören war, hat zwei Gründe. Erstens spielt der Sommersport hier eine (dem Wintersport) untergeordnete Rolle, seit 2008 schaute genau eine olympische Medaille heraus: die bronzene der Segler Thomas Zajac und Tanja Frank 2016 in Rio de Janeiro. Und zweitens ist Österreich dankbar, weil es auch nach dem Tod des früheren ÖOC-Präsidenten Leo Wallner einen IOC-Sitz bekam. Vor allem Wallners Nachfolger Karl Stoss ist dankbar, er hat den Sitz erhalten, und so hört man hierzulande selten ein kritisches Wort über Bach. Dessen Credo lautet, dass der Sport am besten mit einer Stimme spricht. Nämlich mit seiner.

In Deutschland wird der ehemalige Fechter ganz anders beurteilt. Da heißt es, aus dem ehemaligen Aktivenvertreter sei ein Apparatschik geworden. Das IOC hat laut SZ einen "olympischen Rekord aufgestellt: als Weltfremdester unter den Weltfremden". Bemerkenswert ist, dass sich mit Tokio ein Bach'scher Kreis geschlossen hat. Vor vierzig Jahren fiel er selbst um die Olympiateilnahme um, weil der "Westen" (exklusive Österreich) die Sommerspiele 1980 in Moskau boykottierte. Nun sah sich Bach als IOC-Präsident in seinem sturen Zögern selbst Boykottdrohungen großer Nationen wie einzelner Aktiver ausgesetzt. Gut möglich, dass die vergangenen Wochen und Monate auch im Sport eine Zeitenwende eingeläutet haben.

Sportlerinnen und Sportler stellten fest, dass es etwas bringt, wenn man sich auf die Hinterfüße stellt. Die "Gewerkschaft" (The Athletics Association), die der zweimalige Dreisprung-Olympiasieger Christian Taylor in der Leichtathletik gründete, verzeichnet Zulauf und Zuspruch. In einer von Taylor initiierten Umfrage hatten sich 80 Prozent der Befragten gegen Olympische Spiele in diesem Jahr ausgesprochen.

Gut möglich, dass Christian Taylor und Hayley Wickenheiser bald Gesellschaft bekommen. Gut möglich, dass sich Aktive auch über Sportarten hinweg organisieren. Was Sportlerinnen und Sportler, im Gegensatz zum IOC, nämlich auch gelernt haben: Es geht nicht nur um Erfolg. "In dieser schweren Situation", sagt Wickenheiser, "sind wir zuerst einmal Menschen, die sich um ihre Gesundheit und die Gesundheit ihrer Familien sorgen. Wir sollten zunächst als verantwortungsvolle Weltbürger handeln, erst dann als Sportler oder IOC-Mitglieder." Gesundheit, Familie, Verantwortung – da ist Dabeisein jetzt alles. (Fritz Neumann, 25.3.2020)