Die Europäische Union wird auch bei der gemeinsamen Beschaffung von Schutzausrüstung aktiv.

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Die Kompetenzverteilung ist klar: Die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten können bei der Bekämpfung der Corona-Krise Hand in Hand arbeiten, ohne dass die eine Entscheidungsebene die andere ersetzt. Im Prinzip gilt, dass auch in Zeiten einer Pandemie die Hauptverantwortung für die Gesundheitspolitik bei den einzelnen Mitgliedern liegt. Das erklärte Martin Selmayr, Leiter der Vertretung der Europäischen Kommission in Österreich, am Mittwoch bei einem per Videokonferenz abgehaltenen Pressegespräch. Brüssel könne bei der Bewältigung der Corona-Krise dennoch einen großen Beitrag leisten, so Selmayr.

Wie das konkret funktioniert, ist im Artikel 168 des EU-Vertrags geregelt. Die Union hat demnach die Möglichkeit zu koordinieren, Empfehlungen auszusprechen und komplementäre Maßnahmen zu ergreifen. Dass es überhaupt ein Regelwerk dazu gibt, hat man den Debatten des sogenannten Verfassungskonvents zu verdanken, der in den Jahren 2002 und 2003 mit der Ausarbeitung einer Europäischen Verfassung betraut war.

Nah an den Menschen

Vertreter der Mitgliedsstaaten haben sich damals in einer eigenen Arbeitsgruppe mit möglichen Maßnahmen im Falle einer Pandemie beschäftigt. Grund: Zu jener Zeit drohte sich gerade die Sars-Epidemie zu einer Pandemie auszuwachsen. "Davor galt in Europa: Gesundheitspolitik ist ausschließlich Sache der Mitgliedsstaaten", so Selmayr. Mit der Europäischen Verfassung wurde es am Ende bekanntlich nichts, an ihrer Stelle wurde 2007 der Vertrag von Lissabon unterzeichnet. Doch so manche Ergebnisse der Gespräche von damals flossen in diesen ein – und haben bis heute Gültigkeit.

Dass gerade die Organisation des Gesundheitssystems in Krisenzeiten nah an den Menschen sein muss, liegt für Selmyar auf der Hand: "Eine Schule in Wien-Alsergrund oder in Tirol zu schließen oder eine Quarantäne auszusprechen, das kann man am besten lokal machen", glaubt Selmayr. Nicht in jedem Fall seien lokale, regionale oder nationale Regelungen aber effizient. Für Selmayr gilt das etwa beim zunächst nachvollziehbaren Reflex, die Grenzen zu schließen, oder beim anfänglichen Exportverbot für Schutzkleidung in einigen europäischen Staaten: "Relativ rasch hat man gesehen: Moment mal, wir brauchen den freien Fluss von Medikamenten und Schutzkleidung, und wir brauchen auch Menschen aus anderen Mitgliedsstaaten. In Österreich etwa arbeiten 60.000 davon allein in der Pflege."

Grüne Korridore

Die Europäische Kommission sieht ihre Aufgabe auch darin, bei der Lösung der so entstandenen Probleme zu helfen. So wolle man etwa auf die Mitgliedsstaaten einwirken, um die Versorgung mit Lebensmitteln und wichtigen Gütern über sogenannte "grüne Korridore" aufrechtzuhalten. Des Weiteren kann die EU auf Basis ihrer Regeln nun ihre gebündelte Marktmacht einsetzen, um Beatmungsgeräte, Schutzkleidung, Medikamente oder Testgeräte rasch und günstig am Weltmarkt einzukaufen und dann nach einem vorher vereinbarten Schlüssel zu verteilen – unabhängig von den Beschaffungen, die von den einzelnen Mitgliedsstaaten selbst getätigt werden. Laut Selmyar finanziert die EU dabei 90 Prozent der gemeinsamen Einkäufe.

Zusätzlich zum Regelwerk über die Gesundheitspolitik kommen in der aktuellen Krise auch andere Maßnahmen zum Einsatz, die sich aus der Zusammenarbeit unter dem Dach der EU ergeben – etwa im Bereich des konsularischen Schutzes für EU-Bürger, die in Drittländern gestrandet sind: "Unser Krisenstab ermittelt tagtäglich, welcher Mitgliedsstaat gerade Flugzeuge in einen Drittstaat schicken kann, etwa in die USA, nach Marokko oder nach China", so Selmayr. "Dann sehen wir, welche Kapazitäten es gibt, und können dafür sorgen, dass kein Platz in diesen Flugzeugen leer bleibt." (Gerald Schubert, 25.3.2020)