Wir sehen sie mittlerweile jeden Tag: die exponentiellen Kurven, die abgeflachten Kurven, die grauenhafte italienische Kurve, die hinterherhinkende amerikanische Kurve, die hoffnungsgebende chinesische Kurve. Und viele fragen sich: "Werde ich auch bald ein Teil der Kurve sein?" Und vor allem: "Wann sind diese verdammten Kurven endlich weg?"

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Wir werden gebeten, geduldig zu sein. Auszuharren. Uns selbst zu schützen. Denn wenn sich jeder selbst schützt, schützen alle alle. Um diese furchtbare Gegenwart aber bewältigen zu können und dem Warten einen Sinn zu geben, hören wir nur allzu gern die Worte von Vordenkern, die uns einen optimistischen Blick auf das Danach geben.

Zukunftsforscher Matthias Horx wagt eine Rückwärtsprognose. Er schaut vom Herbst 2020 auf heute. Was er sieht, ist ein "historischer Moment, in dem die Zukunft ihre Richtung ändert". Zum Besseren. Mehr Solidarität und Mitmenschlichkeit. Das Ende des hysterischen Multitaskings und Multichannelings. Ja, er sieht sogar den Sieg der human-sozialen Intelligenz über die künstliche Intelligenz – die gegen das Virus auch nichts ausrichten konnte.

Der israelische Historiker Yuval Harari hofft auf die Einsicht, dass jeder von jedem auf diesem Planeten abhängig ist und deshalb die im Moment lebensrettende Isolation danach durch Kooperation ersetzt werden wird. Bill Gates spricht von dem Virus als "großem Korrektor".

Change, Konnektivität und Disruption

Begriffe, wie Change, Konnektivität und Disruption, die uns schon beim Hals herausgehangen sind und alle das Gleiche meinten, nämlich: Wie werden wir noch schneller, noch effizienter? Wie können wir aus allem und allen noch mehr herausholen?

Diese Begriffe würden plötzlich in einem völlig neuen Kontext stehen. Change als Richtungsänderung zum Wesentlichen einer Gesellschaft, eines Unternehmens. Konnektivität im humanen, nicht im technologischen Sinn. Disruption als eine Art Notbremse, die uns auf eine Geschwindigkeit einbremst, die dem Menschen zumutbar ist.

Wie gern würde ich das alles glauben, schon allein deshalb, weil ich meine eigenen dunklen Ängste durch ein großes, helles Ziel besser in den Griff bekommen würde. Aber irgendwie gelingt es mir nicht.

Ich muss immer daran denken, dass sich 95 Prozent der österreichischen Bevölkerung an die Regeln halten, wie wir das Virus langsam in den Griff bekommen können. Aber was ist mit den fünf Prozent? Wenn schon ein Einziger genügt, um wieder alles zum Kippen zu bringen ...

Wer wird sich – langfristig – durchsetzen?

Die ehemaligen Zivildiener, die sich sofort gemeldet haben, um zu helfen, oder die, die sich im Supermarkt um die vermeintlich letzte Rolle Klopapier geprügelt haben?

Die Ärzte und Schwestern, die bis zur totalen Erschöpfung um das Leben der Schwerstkranken kämpfen, oder die Ärzte, die nach einem abgebrochenen Kongress noch ein paar nette Skitage genießen wollten?

Die Länder, die auf eigene Hilfsmittel verzichten, um sie noch stärker betroffenen Ländern zur Verfügung zu stellen, oder jene, die einen sofortigen Exportstopp auf Schutzanzüge, Masken und Ähnliches verhängten?

Die Bundesregierung hat eine Lockerung der Maßnahmen für unmittelbar nach Ostern angekündigt. Zur gleichen Zeit findet auch das jüdische Pessachfest statt. Am ersten Abend des Festes, an dem über den Auszug aus Ägypten und über die zehn Plagen (!) erzählt wird, fragt der Jüngste am Tisch: "Was unterscheidet diese Nacht von allen anderen Nächten?"

Ich frage mich: Was unterscheidet die Corona-Plage von allen anderen Plagen und Krisen? Was werden wir diesmal gelernt und nicht nach kurzer Zeit wieder vergessen haben, so wie unzählige Male zuvor? Wird es wieder Ewiggestrige geben, die mehr und mehr Menschen um sich scharen? Wie steil kann die Lernkurve einer Demokratie überhaupt sein, in der Politiker wiedergewählt werden wollen, in der der Wettlauf der Unternehmen und Länder noch härter geführt werden wird, weil ja alles wieder aufgeholt und jeder wieder überholt werden muss?

Wir werden es hoffentlich bald wissen. (Harry Bergmann, 27.3.2020)