Wer auf die Frühchen-Intensiv kommt, der wundert sich: Es ist mucksmäuschenstill. Ganz anders, als man das von einer Babystation im Spital erwarten würde. Wüsste man nicht, wer hier untergebracht ist, man würde sie gar nicht bemerken, die kleinen Neugeborenen, die in ihren Bettchen hinter Vorhängen und warm eingepackt friedlich schlafen.

Gebrechlicher Start ins Leben: Auf einer Frühchenstation ist es leise, denn ruhig wäre es für die Babys auch, wenn sie noch im Bauch ihrer Mütter wären.
Foto: Heribert Corn www.corn.at

"Der Vorhang ist ganz wichtig", sagt Cécile Dau, leitende Fachärztin der Abteilung für Kinder- und Jugendheilkunde am Wiener Kaiser-Franz-Josef-Spital (KFJ) im zehnten Bezirk. Denn das ist es, was hier alle versuchen: das Leben der Frühchen so gut wie möglich dem im Mutterleib anzugleichen.

Rechnung geht weiter

Denn dort sollten die Kleinen eigentlich auch noch sein. Jedes Kind, das vor der 37. Schwangerschaftswoche auf die Welt kommt, gilt als frühgeboren. Auch wenn die Kinder schon auf der Welt sind, geht diese Rechnung weiter. Es zählt hier nicht, wie alt ein Baby ist, sondern in welcher Schwangerschaftswoche es sich befindet.

"Wir haben das immer im Hinterkopf, um zu wissen, welche Entwicklungsschritte wann sein sollten. Wir versuchen, das natürliche Wachstum zu unterstützen", sagt Dau. Im KFJ werden Frühchen betreut, die ab der 28. Woche zur Welt kommen. Damit zählen sie zu den Großen. Die Kleinsten, die von der 22. bis zur 25. Schwangerschaftswoche geboren werden, sind im AKH untergebracht.

23 Milliliter Muttermilch

Lea und Lara sind 33+2 geboren, also nach 33 Schwangerschaftswochen plus zwei Tagen, und damit sieben Wochen zu früh. Heute sind die eineiigen Zwillinge gerade einmal vier Tage alt, also 33+6. Sie liegen auf der Brust ihrer Mutter Regina und schlafen friedlich.

Auf ihren Köpfen wachsen schon viele dunkle Haare, der Rest ihrer Körper ist gut zugedeckt mit dem Nachthemd ihrer Mutter. Diese liegt neben dem Bett ihrer Töchter auf einem Sessel, der speziell dafür gemacht ist, dass Eltern darauf Zeit mit ihren Babys verbringen und mit ihnen schmusen.

Schläuche, Sonden, Monitore und viel Körperkontakt.
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Eine Pflegerin steht daneben und drückt durch einen kleinen Schlauch, der direkt in die Mägen der Mädchen führt, eine kleine Portion Muttermilch – 23 Milliliter sind es heute, erklärt sie.

Alleine trinken können Lea und Lara noch nicht, denn Saugen und Schlucken können Babys erst ab der 34. Woche. Bei ihrer Geburt waren die Mädchen 1,9 und 2,2 Kilo schwer, erzählt Regina. "Aber es ist alles dran, zehn Finger und zehn Zehen", sagt sie und freut sich, dass ihre Töchter seit der Geburt schon etwas zugenommen haben.

Zahl steigt

Insgesamt steigt der Prozentsatz an Frühgeburten. Warum, ist nicht ganz klar. Betroffen sind einerseits Mütter, die sich in einer sozioökonomisch schlechten Lage befinden und unter sozialem Stress leiden, andererseits Frauen ab 35, die gut ausgebildet sind und spät Kinder bekommen.

Und es gibt Fälle wie jener von Regina mit einer Mehrlingsschwangerschaft. Sie wusste von Anfang an, dass sie eine Risikoschwangere ist. Ihre Töchter haben sich eine Plazenta geteilt, erzählt sie, und deshalb bestand die Gefahr, "dass ein Zwilling dem anderen etwas wegnimmt".

Schon in der Schwangerschaft musste sie jede Woche zur Kontrolluntersuchung ins Spital, viermal auch stationär aufgenommen werden. Schließlich waren die schwachen Herztöne eines der Mädchen der ausschlaggebende Grund, warum die Zwillinge per Notkaiserschnitt auf die Welt geholt wurden.

Im Bauch oder auf der Welt

Bei einigen Müttern, die Frühchen zur Welt bringen, sind es gynäkologische oder anatomische Veränderungen, die zu einer Frühgeburt führen können, sagt Dau. Oft haben sie Fehlgeburten hinter sich, Hormonbehandlungen oder eine künstliche Befruchtung. Auslöser für die vorzeitige Geburt können Infektionen oder psychischer Stress sein.

Oft ist es eine vaginale Infektion, die in die Fruchtblase aufsteigt. "Bakterien machen vor nichts halt. Die Geburt wird eingeleitet, weil die Situation lebensbedrohlich für Mutter und Kind ist", erklärt Dau. Die Mütter spüren Wehen, oder es kommt zu einem Blasensprung. Auch wenn das Kind Stresssymptome zeigt, wird es auf die Welt geholt – meist als Kaiserschnitt, er ist schonender.

Körperwerte überwachen: Das soll für Frühchen bequem sein.
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Zuvor versuchen Mediziner allerdings, die Geburt so gut wie möglich hinauszuzögern, etwa mit wehenhemmenden Mitteln. Denn jeder Tag im Bauch ist für die Entwicklung des Kindes besser als draußen auf der Welt. Zudem kann dann die sogenannte Lungenreifung durchgeführt werden. Sie ist eine Methode, die die Neonatologie revolutioniert hat, sagt Dau.

Reife Lunge

Dabei wird der Mutter hochdosiertes Cortison gegeben, wodurch innerhalb von zwei Tagen die Lunge des Babys deutlich reifer wird. "Aber selbst wenn wir Cortison nur eine Stunde vor der Geburt verabreichen, hat es schon einen minimalen Effekt", sagt Dau. An sich ist das Organ frühestens in der 34. bis 36. Schwangerschaftswoche fertig ausgebildet. Früher sind deshalb viele der Kinder gestorben.

"Sie mussten beatmet werden, das ist anstrengend für den Körper und schädigt Lungengewebe", sagt Dau. Aber nicht nur die Lunge ist bei Frühchen unreif, auch die Haut, die als Barriere noch nicht gut funktioniert, das Herz und der Kreislauf, dem manchmal die Umstellung von der Situation im Mutterleib auf jene in der Außenwelt schwerfällt.

Auch der Darm ist nicht fertig ausgebildet. "Man muss ein bisschen Essen geben, um den Darm zu stärken, aber nicht zu viel. Das ist immer eine Gratwanderung", sagt Dau.

Gute Überlebenschancen

Nach unten hin sind 23 Wochen die Grenze. "Kein Neonatologe würde sich trauen, routinemäßig ein Frühchen unter 23+0 zu versorgen", sagt Dau und berichtet von einem Fall in ihrer Ausbildung, in dem ein Kind mit 320 Gramm Geburtsgewicht überlebt hat. "Das ist ein bisschen schwerer als ein Stück Butter", sagt sie.

Wobei es immer vom Einzelfall abhängt: "Wenn ein Kind kräftige Lebenszeichen entwickelt, wird es immer versorgt. Falls nicht, würden wir keine Reanimation beginnen", sagt Dau. Insgesamt sind die Überlebenschancen für Frühchen sehr gut. Kinder ab der 23. bis 24. Schwangerschaftswoche überleben zu 80 bis 90 Prozent.

"Doch selbst wenn das Kind überlebt, heißt das nicht immer, dass es auch ein gesundes Kind ist", sagt Dau und meint damit eines der wichtigsten Organe, um das sich die Eltern meist auch die größten Sorgen machen: das Gehirn.

Keine Langzeitdaten

"'Wird mein Kind behindert sein?' ist eine der häufigsten Fragen, die uns gestellt werden", sagt die Neonatologin und weiß, dass sich auch hier in den letzten Jahren viel getan hat. "Der kognitive Outcome für diese Kinder sieht kurzfristig sehr gut aus." Langzeitdaten gibt es allerdings noch nicht.

Auch wenn Legasthenie, Rechenschwäche oder ADHS bei Frühgeborenen laut Untersuchungen häufiger sind, "sind die Daten in aktuellen Studien aus einer Zeit, in der die Frühgeborenenmedizin noch eine ganz andere war". Insgesamt ist der Prozentsatz der ehemaligen Frühchen, die ein Entwicklungsproblem oder Handicap haben, in den letzten Jahren konstant kleiner geworden.

Auch Baden gehört für die größeren Frühchen zur Routine. Die meisten mögen das warme Wasser.
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Eine wesentliche Rolle in der Entwicklung der Kinder spielen die Eltern, weiß auch Elisabeth Wippel, Stationsleiterin Pflege auf der Frühgeborenen-Intensiv: "Eltern können viele positive Stimulationen bieten, um Stress und Schmerzen bei den Kindern so gering wie möglich zu halten: All das wirkt sich auf die Gehirnentwicklung aus."

Die Eltern spielen daher die Hauptrolle in der Pflege ihrer Kinder, auch im Spital. Sie sind in die Behandlung involviert, sollen die Kinder baden, beruhigen, wickeln, eincremen und vor allem viel Haut-an-Haut-Kontakt haben – Känguru-Methode wird diese Maßnahme genannt, bei der Eltern und Kinder einander spüren und riechen und den Herzschlag des anderen hören.

Insgesamt wird die Pflege auf der Station um die Kinder herum organisiert, es gibt keine fixen Badetage oder Essenszeiten, und jedes Kind wird individuell betreut, sagt Wippel. Auch diagnostische Maßnahmen, etwa ein Schädelultraschall, werden so wenig wie möglich gemacht, um das Umfeld der Kinder ruhig und ohne störende Reize zu gestalten.

Ängste abbauen

Obwohl die Bindung und Nähe der Eltern zu den Kindern extrem wichtig ist, kann es gerade bei Frühchen für viele Eltern eine Herausforderung sein, Berührungsängste abzubauen. "Für manche ist es ganz schlimm, wenn sie ihr Kind so verkabelt oder intubiert an der Beatmungsmaschine sehen, sie trauen sich dann gar nicht, ihr Kind zu berühren, weil es so zerbrechlich aussieht und sie Angst haben, etwas kaputtzumachen", sagt Dau.

Tatsächlich kann der Anblick abschrecken. Auf der Intensivstation hängt über den kleinen Patienten ein Monitor, auf dem Herzfrequenz, Sauerstoffsättigung und die Atemfrequenz zu sehen sind, die über EKG-Elektroden aufgezeichnet werden. Daneben gibt es Gasanschlüsse für Sauerstoff und Luft sowie Infusionen. "Wir bemühen uns, mit Deckchen und kinderfreundlicher Bettwäsche dem ganzen den Schrecken zu nehmen", sagt Dau.

Viel Technik rund um die Babys

Viel wichtiger ist aber, so Wippel, dass die Eltern von Anfang begleitet werden und wissen, wofür diese vielen Schläuche und Elektroden gut sind: "Wir erklären dann: ,Das ist eine Magensonde, dadurch kann das Baby essen.‘ Oder: ,Den Schlauch in der Nase braucht das Baby zum Atmen.‘

Und natürlich, dass wir froh sind, dass wir diese technische Unterstützung haben." So werden die Eltern langsam herangeführt – ihnen wird klargemacht: Das ist ihr Kind, sie dürfen es berühren. ",Sprechen Sie mit dem Kind, singen Sie ihm etwas vor, lernen Sie es kennen‘, sagen wir zu den Eltern", so Dau.

Milch trinken lernen: ein wichtiges Ziel vor der Entlassung.
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Regina ist von der Geburt immer noch geschwächt, ihr Blutdruck spielt verrückt, und sie hat Schmerzen. Dennoch versucht sie, einmal am Vor- und einmal am Nachmittag ihre Babys für ein paar Stunden zu besuchen – ihr eigenes Zimmer liegt ein Stockwerk darüber. Andere Eltern schaffen das nicht so regelmäßig und können oft nur eine Stunde am Tag ins Krankenhaus kommen.

Immerhin sind manche Babys hier für viele Wochen. Draußen geht allerdings das Leben weiter. In vielen Familien gibt es Geschwisterkinder, die nicht wochenlang auf ihre Mutter oder ihre Eltern verzichten können, und der Vater muss oft auch wieder zurück zur Arbeit.

"Es gibt keine Mutter, die nicht gerne hier wäre", sagt auch Katharina Kruppa, Gründerin und Leiterin der Baby-Care-Ambulanz im KFJ. Sie weiß, dass das für Eltern oft eine starke psychische und emotionale Belastung ist, sie Schuldgefühle haben, immer ein Kind im Stich zu lassen, wenn sie beim anderen sind. "Viele haben kein so großes soziales Netzwerk, das sie in dieser Situation unterstützen kann", weiß Dau.

Gebündelte Expertise

Im Kaiser-Franz-Josef-Spital gibt es daher auch ein multidisziplinäres Team, das die Eltern unterstützt. Alle haben die Möglichkeit, mit den Psychologinnen zu sprechen. Ein Spitalsaufenthalt, die persönliche Überforderung und Angst vor der Zukunft: Das alles kann sehr belastend sein. Und auch nach einer Entlassung können sich die Eltern von Frühgeborenen noch an die Baby-Care-Ambulanz wenden.

"Es braucht oft mehr als nur medizinische Nachsorge", sagt Kruppa. Dazu zählen Stillberatung, Fragen zur Bindung, zum Schlafen und Weinen oder zum Thema Ernährung. Viele Eltern haben Angst vor der Zeit daheim und davor, ganz alleine für so ein zerbrechliches Wesen zuständig zu sein, weiß Kruppa: "Die Eltern und ihr Kind sind oft wie zwei Magnete, die zueinander wollen, es aber nicht schaffen, weil etwas dazwischensteckt. Das kann solche Ausmaße annehmen, dass Eltern nicht mehr auf ihre eigenen Instinkte hören können, die in den meisten Fällen ausreichen, um ein Kind zu versorgen."

Druck und schlechtes Gewissen

Was den Eltern oft im Weg stehe, seien ein schlechtes Gewissen, der Druck, eine gute Mutter oder ein guter Vater sein zu müssen, die Angst, etwas falsch zu machen oder dass das Kind krank sein könnte. Doch ob ein Frühchen tatsächlich beeinträchtigt sein wird, sei meist nur eine statistische Angabe von Wahrscheinlichkeiten – "das sagt aber nichts über das einzelne Kind aus", weiß Kruppa aus Erfahrung.

Das müsse man auch den Eltern klarmachen. Und schließlich zähle nur, dass Mama und Papa es schaffen, ihr Kind mit allen Qualitäten und Problemen, die es hat, anzunehmen. (Bernadette Redl, CURE, 24.6.2020)